: Späte Debatte in Polen über die Vergangenheit
Solidarność will die ehemaligen Kommunisten zur verbrecherischen Organisation erklären lassen ■ Aus Warschau Gabriele Lesser
„Die Volksrepublik Polen hat keinen Völkermord auf dem Gewissen!“ Tomasz Nalecz von der Arbeitsunion (UP) scheint am Verstand seines Gesprächspartners zu zweifeln. „Die Kommunistische Partei Polens hat sicher viel falsch gemacht, aber sie mit der NSDAP zu vergleichen, ist doch völlig absurd!“ Stefan Niesiolowski, der am Tag zuvor im polnischen Abgeordnetenhaus den Entwurf einer Abrechnung mit der Vergangenheit vorgestellt hatte, gibt klein bei. Im Fernsehduell fehlt ihm das Pathos der selbstgerechten Abrechnung mit dem Feind.
Im Sejm hatten die Abgeordneten der Wahlaktion Solidarność (AWS), die in der Regierungskoalition den größeren Partner stellen, 21mal geklatscht: „Bravo“ für den Unerbittlichen. Die Abgeordneten der angegriffenen Nachfolgepartei der Kommunisten verließen geschlossen den Saal. „Das Polen aufgezwungene kommunistische System hatte von Anbeginn und durch all die folgenden Jahre einen verbrecherischen Charakter“, wetterte Niesiolowski vor halbleerem Saal. „Wir verwerfen und verdammen dieses System. Und wir verurteilen die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei als verbrecherische Organisation. Wir fordern eine schnelle Bestrafung all jener, die sich der kommunistischen Verbrechen schuldig gemacht haben.“
Nicht bedacht hatte Niesiolowski allerdings, daß zahlreiche der Abgeordneten des Koalitionspartners, der Freiheitsunion (UW), damit ebenfalls zu „Verbrechern“ gestempelt würden, waren doch die meisten der Solidarność-Intellektuellen zunächst in der Partei gewesen. Die UW-Abgeordneten waren denn auch wenig begeistert vom Solidarność-Entwurf.
Einer von ihnen, Jacek Kuron, legte einen zweiten „Abrechnungsentwurf“ vor. Die Freiheitsunion ist zwar für die Bestrafung der Schuldigen, aber gegen eine Kollektivschuld aller Parteimitglieder. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sollte nicht vom Gefühl der Rache bestimmt sein und einzig Diskriminierung zur Folge haben. Ohnehin sei es besser, so Kuron, die Geschichte den Historikern zu überlassen. Sie sollten alle Akten auswerten und ihr Urteil fällen, nicht aber die Politiker, die sich zu sehr von Gefühlen leiten ließen und der Gesellschaft ihre Version der Wahrheit aufdrängen wollten.
Vor der Tür wartete Danuta Waniek vom Demokratischen Linksbündnis auf das Ende der Anklagen und Verurteilungen. „Hatte Polen 1945 überhaupt die Möglichkeit zu einer anderen politischen Lösung?“ fragt sie rhetorisch in den Saal. „Die AWS steht wohl auf dem Standpunkt, daß es besser wäre, gar keinen polnischen Staat zu haben als eine Volksrepublik.“ Als sie den Abgeordneten der AWS vorwirft, daß diese die SLD am liebsten delegalisieren würden, klatschen einige Abgeordnete. Und sie beginnen hämisch zu lachen, als Danuta Waniek abschließend sagt: „Wir lassen euch allein mit eurem Haß. Das ist eure Welt, eure Rache und euer Problem. Wir sind schon ganz woanders. Wir diskutieren die für Polen heute wichtigsten Reformen.“
Die PVAP regierte 44 Jahre lang in Polen. Acht Jahre nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Osteuropa beginnt in Polen die Debatte über die Vergangenheit. Tadeusz Mazowiecki, der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Polens, hatte 1990 versichert, daß er einen „dicken Schlußstrich“ unter die Vergangenheit ziehen wolle. Und auch Adam Michnik, der wie Mazowiecki zum Kreis der Solidarność-Intellektuellen zählte und Anfang der 90er Jahre die erste unabhängige Zeitung Polens herausgab, hatte für die „Versöhnung“ mit den ehemaligen Gegnern plädiert. Vom „Fußvolk“ war diese Einstellung nicht verstanden worden. Die Forderung nach „Gerechtigkeit“ verhallte jahrelang ungehört. So beginnt die Debatte um die Vergangenheit verspätet und in aller Schärfe.
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