Die Ästhetik des Stolperns

Über Ostern zeigt Sasha Waltz ihre „Travelogue“-Trilogie erstmals im Zusammenhang. Diese Choreographien machten sie so berühmt, daß sie jetzt aus dem Berliner Off an die Schaubühne katapultiert wird  ■ Von Katrin Bettina Müller

Ein Kreis schließt sich. Fünf Jahre, nachdem Sasha Waltz mit „Twenty to Eight“, dem ersten Teil ihrer Trilogie, aufbrach, um mit witzig-wütenden Tanzgeschichten ein nach Unterhaltung hungerndes Publikum in London, New York, Montreal, Moskau und zwanzig weiteren Städten zu erobern, nimmt sie den Dreiteiler noch einmal auf. Zum ersten Mal tanzen Sasha Waltz & Guests alle drei Stücke von „Travelogue“ im Abstand von wenigen Stunden in der Berliner Volksbühne. Da es immer schwieriger wird, die Originalbesetzung wieder zusammenzubekommen, ist das sicher auch der Abschied von der Trilogie.

Das Timing könnte nicht besser sein. Denn wenige Wochen vor der Rückkehr des Exportschlagers sickerte ein Gerücht durch: Die Schaubühne sehe sich nach einem neuen Regie-Team um, zu dem die 35jährige Sasha Waltz mit den Regisseuren Thomas Ostermeier (Deutsches Theater, Berlin), Tom Kühnel und Robert Schuster (Schauspiel Frankfurt) gehöre. Die Nachricht wurde bestätigt, die Gespräche über die Konditionen dauern noch an. Selbst die Fans von Sasha Waltz sind von dem geplanten Schritt aus dem Off überrascht.

Theater und Tanz: Zwar findet die Choreographie als Instrument der Formfindung immer mehr Liebhaber unter Regisseuren wie Robert Wilson, Einar Schleef oder Christoph Marthaler. Der Trend zur Entpsychologisierung, der mit Situationen statt mit Szenen auskommt, entspricht dem pessimistischen Befund einer Generation, die nicht mehr an Entwicklung und Aufklärung glaubt. Dennoch haben sich renommierte Schauspielhäuser dem Tanztheater bisher nur selten geöffnet: In Berlin war die Volksbühne die Ausnahme, an der Johann Kresniks Legenden von Anarchismus und Untergang allerdings mindestens ein Jahrzehnt zu spät landeten. Körpertheater wurde dort bisher als Steigerung der Erzählung von Opfern, Schlächtern und Verrätern eingesetzt. Mit Sasha Waltz & Guests kommen erstmals die vergnügten Seiten des Tanzes auf diese Bühne.

Der Sachzwang regiert in „Travelogue“. Das Leben? Ein Kampf gegen die Macht der Dinge. Sie regeln die sozialen Beziehungen, bestimmen den Zwang zum Handeln. In „Twenty to Eight“ bildet eine Küche das Zentrum von Freundschaften, Konkurrenzen, Mißverständnissen und Eitelkeiten. Schon in diesem ersten Teil bewies Sasha Waltz Leichtigkeit und Witz: In absurden Wiederholungen und Beschleunigungen und im ungestümen Wechsel der Bedeutungsfelder liegt ihre Stärke. Zwar geht die Beobachtung des Alltäglichen den Bewegungsansätzen voraus, die dann aber mit eigener Dynamik ins Phantastische abheben.

Dem Wünschen und Begehren, dem sich auch in „Tears Break Fast“ und „All Ways Six Steps“ wieder eine harte Außenwelt entgegenstellt, werden so neue Wege gebahnt. Notrufe der Gefühle bleiben spürbar, lauernd, nie ganz in den Vordergrund gelassen; denn den beherrscht das Spiel, die Krimi-Parodie, die Verwandlungsmacht der Märchen, die Unverwundbarkeit der Comikhelden. Der Preis für die Leichtigkeit, mit der die Gruppe über wohlvertrauten Abgründen balanciert, liegt in der Typisierung ihrer Figuren.

„Andere Leute kleben ihr Leben in ein Fotoalbum. Sasha Waltz macht daraus eine Tanz-Trilogie“, schrieb Christine Richard in Basel, wo die Trilogie auf dem Festival Welt in Basel 1996 gefeiert wurde. Nicht allein die liebevolle Beschäftigung mit all dem Kleinkarierten, das unterhalb der Schwelle der großen Gefühle weite Strecken des Lebens ausmacht, verschaffte der Company Anerkennung, sondern auch ihre Skizze der Gesellschaft: „So spiegeln sie auch ein neues Zeitgefühl“, fuhr Richard fort: „Jeder für sich, doch keiner allein. Die arbeitsteilig organisierte Gesellschaft hält uns zusammen, der Konkurrenzkapitalismus treibt uns auseinander. Diese Freundfeindschaft, diese Nähe im Fremden (...): all das ist in der Trilogie wiederzufinden.“

Der Trilogie folgten die „Allee der Kosmonauten“ und „Zweiland“. Beide Stücke wurden in den Sophiensaelen entwickelt, einem alten Versammlungshaus in Berlin-Mitte, das Jochen Sandig, Produzent und Lebensgefährte von Sasha Waltz, zusammen mit anderen Theaterleuten (etwa Jo Fabian) seit drei Jahren zu einer neuen Spielstätte aufbaut. Aber auf die Dauer wiegen Geschichte und atmosphärisches Potential die fehlende Ausstattung nicht auf. Aus baupolizeilichen Gründen dürfen nicht mehr als hundert Besucher in eine Vorstellung.

Das ist einer der Gründe, warum Sasha Waltz nach einer größeren Bühne sucht. Noch ist es zu früh, um über das Schaubühnenengagement in zwei Jahren zu reden, nicht aber über Wünsche: Ganz oben stehen ein festes Ensemble und Kontinuität. Dazu gehören Werkstätten, größere Einnahmen, die Einladung von Gastspielen. Wenn Waltz dann auf die Möglichkeiten von Licht und Bühnentechnik zu sprechen kommt, scheint sie in Gedanken schon am Kurfürstendamm zu proben.

Wer um die Intimität ihrer Geschichten an einem großen Theater bangt oder ein Glätten ihrer aus dem Stolpern über das Unzulängliche entwickelten Ästhetik in einer perfekten Bühnenmaschinerie befürchtet, den weist sie empört zurecht. Erstens habe die Gruppe auf Tournee schon oft in Häusern mit tausend Plätzen getanzt, zweitens wolle sie „nicht bis ans Ende meiner Tage mit dem Mangel umgehen“, drittens stinke ihr das hierarchische Gefälle zwischen alternativer Szene und etablierten Häusern. Lange genug sei sie als „vielversprechendes Talent“ gehandelt worden.

Volksbühne Berlin, 10./11.4, 19.30 Uhr, „Twenty to Eight“; 10./11.4., 22.30 Uhr, „Tears Break Fast“; 12./ 13.4., 21 Uhr, „All Ways Six Steps“