■ Vorschlag: In der Filmbar – „Letzte Runde“ im Kino in den Hackeschen Höfen
„Letzte Runde“ – eigentlich ein seltsamer Titel für einen Film, der aus Westberlin kommt. Während andernorts der letzten Runde stets eine gewisse Dramatik innewohnt, kommt sie doch früh am Abend schon; gegen eins, wie Freunde aus Westdeutschland berichten, ist in Berlin nie Schluß. Während die Polizeistunde also in anderen Städten das kollektive Ende des Abends einläutet, schließt in Berlin das Lokal, in dem man gerade sitzt. Mehr nicht.
Der Titel von Antonia Lerchs Dokumentarfilm, der für die documenta X gedreht und von ZDF und arte bezahlt wurde, ist auch aus anderen Gründen ein wenig irreführend. Jedenfalls für den, der auf betrunkene späte Gäste hofft, auf müde Menschen, die am Ende ein letztes Mal meist so kläglich wie vergeblich versuchen, jemanden mit nach Haus zu nehmen oder komische Sachen erzählen oder unter dem Tisch liegen. Zuweilen hat der Film geradezu etwas Kneipenverachtendes. Sie sei durch die Straßen gegangen und hätte sich die Kneipen ausgesucht, die am meisten Licht hatten, so die Filmerin, und erniedrigte die Kneipen zur Kulisse für die Inszenierung von Menschen, die sie größtenteils schon vorher kannte.
Abgesehen davon, daß der Film am Morgen endet, ist eine Dramaturgie nicht erkennbar. Eine Familie bespricht den Dienstplan ihrer Kneipe. Draußen sitzen zwei Fledermausforscher und unterhalten sich über Fledermäuse. In Berlin gibt es viele. Manche sind nur daumennagelgroß. Eine jüdische Frau erzählt sehr bewegend auf russisch vom Massenmord der Deutschen in Babi Jar, dem sie nur mit Glück entkam. Schnitt. Eine argentinische Frau an der Bar bespricht am Telefon Heiratsabsichten und Aufenthaltsgenehmigungsprobleme. Schnitt. Ein schwarzer und ein weißer Chirurg unterhalten sich über Organtransplantationen. Manchmal ist das erschütternd, manchmal witzig. Am Rande sitzt als schweigendes Inventar ein Mann mit Bart und Brille. Schnitt. In einer Kreuzberger Szenekneipe (Weiße Taube) trinkt die klasse Thresenfrau mit ihrer Freundin zum Ladenschluß. Am Flipper steht schwergewichtig die schwarze Tänzerin Elsa, flippert mit Begeisterung und erzählt dabei von ihrer Mutter. (Wunderbare Szene; kein Wunder, sie ist Tänzerin in Paris.) Schnitt. Im Wasser turteln zwei Schwäne miteinander. Ihre Hälse bilden ein Herzchen. So schön und konfliktfrei multikulturell sind die letzten Runden in Berlin. Daß der Film trotz allem lebendig ist, ist allein den Protagonisten zu verdanken. Detlef Kuhlbrodt
„Letzte Runde“. Regie: Antonia Lerch, D 1997, 94 Min. fsk am Oranienplatz, Hackesche Höfe, dort auch in der Bar
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