: Lange Finger, schnelle Schritte
■ „Latrinité“bescherten den „Jungen Hunden 98“auf Kampnagel eine glanzvolle Eröffnung
Alle reden über zuwenig Geld, nur die Langfinger von Latrinité/Victoria nehmen sich, was sie brauchen. Mit vorsichtigen Griffen erkunden sie gegenseitig ihre Körper. Bis allerdings feststeht, daß die Begierde der findigen Fingerspitzen nicht der Haut unter dem Sakko, sondern den Innentaschen gilt, vergeht einige Zeit. Und selbst dann wird die wohlkalkulierte Spannung nicht restlos beseitigt: Spieler sind Diebe, und Diebe sind Spieler. Und Geheimniskrämer.
Die belgische Produktionsgemeinschaft Victoria war in Hamburg zuletzt mit dem aufregenden Jugendstück Bernadettje zu Gast. Die unter ihrem Dach arbeitende dreiköpfige Gruppe Latrinité eröffnete nun mit ihrer zweiten Produktion, dem Tanztheaterstück Auri sacra fames (Der verfluchte Geldhunger) das sechste Festival der Jungen Hunde auf Kampnagel.
Das Festival für den internationalen Tanz- und Theaternachwuchs genießt Jahr für Jahr ein höheres Ansehen – das bewies auch das zahlreich erschienene Publikum. Über die dennoch keineswegs rosige finanzielle Situation (die 13 Projekte müssen mit rund 160.000 Mark auskommen) ist im Vorfeld ausführlich berichtet worden. Latrinité übersetzte die Debatte in Kunst: Ein würdiger Auftakt mit realsatirischen Anklängen.
Die Inspiration für Auri sacra fames war Dostojewskis Novelle Der Spieler. Doch wer nach Alexej Iwanowitsch Ausschau hält, kann lange suchen. Die drei Tänzer und Choreographen von Latrinité sind nicht an der Handlung der literarischen Vorlage interessiert. Zur Musik von Schostakowitsch bewegen sie sich durch imaginierte Räume: Das kann eine Wein-Auktionshalle oder ein russischer Ballettsaal sein, dessen kalte Atmosphäre sie mit einer Unterrichts-Parodie aufbrechen.
Von Dostojewski bleibt das Thema übrig: das Glücksspiel und dessen ungeschriebene Regeln und Rituale. Da ist die Coolness, die so lange anhalten muß, bis sich die angestaute Gier in hilflosem Zittern oder Aggressivität entladen darf. Da ist die Fliehkraft der Spielsucht: Wer in deren Sog gerät, strudelt bis zur Erschöpfung zwischen seinen Mitspielern umher. Die Willenlosigkeit des Süchtigen wird von den noch Ruhigeren gnadenlos zur Manipulation ausgenutzt. Doch jeder kommt mal dran, und jeder weiß es. Bis es soweit ist, dürfen sich die Spieler an einem kleinen Bar-Altar im Hintergrund bedienen und gemeinsam Kräfte sammeln – auch trügerische Bündnisse gehören zu den Riten des Spiels.
Das Material, das Latrinité in einer knappen Stunde zum Thema Glücksspiel zusammenträgt, ist – ehrlich gesagt – nicht immer so klar zu durchschauen wie in den genannten Beispielen. Manchmal ist es einfach nur faszinierend, Mohamed Ben Benaouisse, Helmut van den Meersschaut und Noel von Kelst beim Tanzen zuzuschauen. Die Kombination aus Rock'n'Roll, Steptanz und Ballett-Parodie ist auch ohne offensichtlichen Bezug zum Thema unterhaltsam und an vielen Stellen sehr komisch.
Neben Schauspiel und anderen Bühnenformen werden bis zum 2. Mai noch fünf weitere internationale Tanzgruppen bei den Jungen Hunden auftreten. Einstweilen viele Grüße nach Belgien und zwei Fragen: Kommt ihr bald wieder? Und kann man im Gegenzug Hamburger Gruppen eigentlich bei euch angucken?
Barbora Paluskova
noch heute, 19.30 Uhr, k2
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