Schulintegration im Abwind

■ Durch rigide Sparmaßnahmen und fehlenden politischen Willen droht die gemeinsame Erziehung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung zu scheitern

Peters Eltern möchten für ihren Sohn mit einer Lernbehinderung einen Platz in einer Integrationsklasse der Grundschule bekommen. Im Förderausschuß, der unter Beteiligung von Eltern, Sonderpädagogen und Schulleitung den Förderbedarf des Jungen festzustellen hat, wird ihnen mitgeteilt, daß er doch auf eine Sonderschule muß, da nicht genug Mittel zur Förderung in der Grundschule zur Verfügung stehen. Diese Szene kann sich jetzt häufiger abspielen. Scheitert der gemeinsame Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung nun am Geld und am fehlenden politischen Willen?

Das verwundert um so mehr, als durch die Entwicklung der vergangenen Jahre erhebliche Erfolge aufzuweisen sind: Während die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf von 1975 bis 1990 nur auf insgesamt 350 Schüler anstieg, kommen seit 1990 jährlich 400 bis 500 hinzu. 1997/98 gibt es in Grund- und Oberschulen rund 4.000 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Dieser Anstieg ist der Verabschiedung des Paragraphen 10a des Schulgesetzes 1990 zu verdanken, der die Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die allgemeine Schule regelt und den Eltern ein Wahlrecht zwischen Sonderschule und allgemeiner Grund- bzw. Oberschule einräumt.

1993 erfolgte dann die Novellierung des Paragraphen 10a des Schulgesetzes (SchG). Es kam zur Einführung gemeinsamer Erziehung als Regelpraxis in der Grundschule, zur Einbeziehung aller Schularten der Oberschule und zur Einrichtung zweier Schulversuche von Schülerinnen und Schülern mit einer geistigen oder schweren Mehrfachbehinderung und zur beruflichen Vorbereitung und Eingliederung. Auch im Bereich der Oberschule fand danach eine erhebliche Ausdehnung statt. Waren zunächst nur wenige Gesamtschulen beteiligt, so sind es mittlerweile 87 Oberschulen mit über 100 Integrationsklassen.

Schließlich ist der Prozeß der praktischen Realisierung des Lernens in heterogenen Gruppen von ganz unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern durch viele engagierte Lehrerinnen und Lehrer weit fortgeschritten und hat, wie wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, sowohl auf der Seite der Sozialentwicklung als auch auf der der Lernentwicklung für alle überwiegend positive Ergebnisse gezeigt.

Die bei allem Erfolg dennoch schleichende Verschlechterung der Bedingungen gemeinsamer Erziehung in den vergangenen Jahren (Erhöhung der Klassenfrequenzen auf 23 Schüler, Wegfall der Teilungsstunden und der Ermäßigungsstunden für Fortbildung usw.) droht nun unter dem Druck vorgeblich knapper Mittel zu einer wirklichen Gefährdung zu werden. Aus den Bezirken kommen zunehmend Klagen darüber, daß für das kommende Schuljahr vor allem im Grundschulbereich keine neuen Stunden für die sonderpädagogische Förderung zur Verfügung stehen werden. So soll in einigen Bezirken nur ein Viertel der über Förderausschüsse beantragten Stunden bewilligt werden können. Die Absicht der Schulverwaltung, keine zusätzlichen Mittel mehr für integrative Maßnahmen in der Grundschule zur Verfügung zu stellen, hat vor allem fatale Konsequenzen für die Bezirke im Ostteil, da hier die gemeinsame Erziehung auch im Grundschulbereich erst im Aufbau begriffen ist und dringend der Erweiterung bedarf. Die Gründe für die Verschlechterungen sind unterschiedlich: Eine volkswirtschaftlich unsinnige Kürzungspolitik benutzt den Bildungsbereich bevorzugt als Steinbruch, da dieser Bereich keine starke Lobby hat. Der bildungspolitische Trend geht momentan in die entgegengesetzte Richtung, hin zu mehr Begabtenförderung, frühzeitiger Selektion in grundständigen Gymnasien und Schnelläuferklassen.

Mit der Novellierung des 10a SchG wurde ein Haushaltsvorbehalt formuliert, d. h., daß bei fehlenden Mitteln der Wunsch nach Integration abgelehnt werden kann. Damit ist ein behindertes Kind nicht mit den anderen gleichgestellt. Ein nichtbehinderter Schüler, der die Aufnahme in ein Gymnasium wünscht, kann dagegen nicht wegen fehlender Mittel abgelehnt werden.

Die Senatsschulverwaltung hat bisher nicht dafür gesorgt, daß das Angebot sonderpädagogischer Förderung in Sonderschulen in dem Maße abgebaut wird, wie es in allgemeinen Schulen aufgebaut wird. Dadurch wird Integration teurer. Und schließlich ist die verwaltungsrechtliche und organisatorische Umsetzung des 10a SchG nur halbherzig oder gar nicht vorangetrieben worden. So gibt es noch immer keine Rechtsverordnung zur sonderpädagogischen Förderung. Der bisherige Entwurf ist eher ein Rückschritt: Das Elternrecht wird weiter eingeschränkt. Trotz aufwendiger Förderausschußverfahren soll über die wenigen zu vergebenden Förderplätze per Losverfahren entschieden werden. Lernbehinderte Schüler in Integrationsklassen sollen ausschließlich nach den Leistungsanforderungen der Sonderschule für Lernbehinderte unterrichtet werden.

Um das so erfolgreich begonnene Reformvorhaben nicht an kurzsichtiger Mittelvergabe und zu engen bildungspolitischem Denken scheitern zu lassen, müssen die erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt und das Schulgesetz endlich auch verwaltungsrechtlich und organisatorisch umgesetzt werden. Dazu sollten entsprechende Aus- und Fortbildungsmaßnahmen nicht nur für Lehrer, sondern auch für Schulräte und Schulleitungen gehören. Um Planungen und Absprachen im Rahmen eines Zwei-Pädagogen-Systems in Integrationsklassen sicherzustellen, ist auch an die Veränderung der Anwesenheitsregelung für Lehrer an den Schulen zu denken – auch wenn dieser Punkt von gewerkschaftlicher Seite nicht mit großer Begeisterung aufgenommen wird.

Bei einer flächendeckenden Umsetzung der gemeinsamen Erziehung wäre es sinnvoll, einen pauschalen Pool von Fördermitteln für die Schulen zur Verfügung zu stellen. Das würde einen Großteil der Förderausschüsse überflüssig machen. Rainer Maikowski

Der Autor war früher Mitglied des SDS und arbeitet im Berliner Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung (BIl).