: Das Alphabet der Kamele
Alberto Manguels „Geschichte des Lesens“ reicht von babylonischen Tontäfelchen bis zum Kaffeefleck im eigenen Lieblingsbuch. Liest man besser sitzend oder liegend? Und welches Buch an welchem Ort? ■ Von Jörg Magenau
Lesen ist etwas Intimes. U-Bahn-Leser versuchen deshalb, den Titel ihres Buches vor den Blicken der Mitfahrer zu verbergen. Zu wissen, ob es sich um Robert Walser oder um Hera Lind handelt, erlaubt weitreichende Rückschlüsse und könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein. Die Auswahl der richtigen Lektüre für den jeweiligen Ort ist wohl noch wichtiger als angemessene Kleidung, denn mit dem Lesestoff entwirft man ein Bild von sich selbst. Romain Rolland wirkt als Reiselektüre vielleicht etwas zu prätentiös, Agatha Christie zu vulgär. Also nimmt man besser Camus, damit blamiert man sich nie. Oder Ingo Schulze, um Trendbewußtsein zu demonstrieren. Es kommt auch darauf an, ob es sich um eine lange oder eine kurze Reise, eine Zugfahrt oder einen Flug handelt. Bücher, soviel steht jedenfalls fest, verwandeln sich mit den Orten, an denen sie gelesen werden: ob in der Bibliothek, am Strand, auf der Toilette oder im Bett. So intim sind wir mit ihnen.
Um derlei Fragen geht es in der „Geschichte des Lesens“ von Alberto Manguel – zu dick und zu großformatig für unterwegs, zu schwer, um sie im Liegen zu lesen, eher etwas für den abendlichen Schmökersessel. Es ist, wie könnte es beim Schreiben übers Lesen anders sein, ein höchst subjektives Buch, das dem Drang zur Thesenbildung konsequent widersteht: erfreulich unprätentiös und unwissenschaftlich, keine chronologische Historienkonstruktion, sondern eine Sammlung von Anekdoten, Abschweifungen, Details.
Alberto Manguel ist ein besessener Leser, und er beginnt logischerweise mit der Erinnerung daran, wie er lesen lernte. Ein ganzes Kapitel widmet er der Wahrnehmungspsychologie und den erstaunlichen Prozessen, die sich vom Erfassen einer Buchstabenfolge bis zur Konstruktion von Bedeutung im Hirn abspielen: Lesen ist ohne Frage ein schöpferischer Prozeß. Die Weltliteratur erlas er sich in der väterlichen Bibliothek in Buenos Aires. Nach der Rückkehr aus Tel Aviv 1955 – Manguel war damals sechs Jahre alt – kaufte der Vater Bücher quadratmeterweise im Antiquariat und ließ sie alle in derselben Größe binden. So fehlten häufig die obersten und untersten Zeilen der Seiten. „Geh raus und lebe!“ pflegte die Mutter in Vorwegnahme des später zu Ruhm gelangenden Beckenbauerschen Diktums „Geht's raus und spielt's!“ Alberto zuzurufen. Doch der empfand das Lesen als primäre Lebendigkeit. Was ihm draußen begegnete, waren allenfalls schlechte Wiederholungen, denn Wirklichkeit ist vergleichsweise mangelhaft.
Mit 16 arbeitete Alberto Manguel in einem Antiquariat. Dort lernte er den erblindeten Jorge Luis Borges kennen, der tastend, von seiner Mutter begleitet, altenglische Literatur suchte und außerdem einen Vorleser. Über zwei Jahre besuchte Manguel mehrmals die Woche den blinden Schriftsteller. Er las ihm Kipling, Stevenson, Henry James vor, las aus dem „Großen Brockhaus“ und aus „Tausendundeiner Nacht“. Er wurde zu einer Art Chauffeur der Textwelt, der sich nach den Wünschen seines Passagiers zu richten hatte: „Der Raum, der sich vor uns entfaltete, gehörte ihm, dem Fahrgast, der nichts weiter zu tun hatte, als die Landschaft in sich aufzunehmen.“ Da ist es nicht erstaunlich, daß Alberto Manguel zum kosmopolitischen Homme de Lettres reifte, der als Lektor in Italien arbeitete, als Übersetzer in Paris und als Dozent in Toronto. Derzeit lebt er als kanadischer Staatsbürger in London.
Wenn „Lesen wie atmen ist“ – so Manguel –, wo beginnt dann die „Geschichte des Lesens“? Wer war der erste Leser? Und warum? Soviel ist klar: Lesen begann vor dem Schreiben und lange vor der Erfindung der Schrift. Man las die Sterne am Himmel, die Spuren der Tiere im Schnee, las im Gedärm der Opfertiere oder in den Gesichtern der Freunde. Lesen von Buchstaben ist eine vergleichsweise späte Errungenschaft. Manguel begibt sich auf der Suche nach dem Anfang in den Irak, denn dort, sechzig Kilometer südlich von Bagdad, wo einst Babylon stand, könnte die Vorgeschichte des Buches begonnen haben. Die ersten Schrifttäfelchen hielten Erkenntnisse über Bewässerungssysteme und Bautechniken fest. Geschaffen wurde damit zugleich die Zunft der Schreiber, die rasch begriffen, daß ihre Kunst Macht bedeutet. Die mesopotamischen Schreiber beendeten deshalb alle ihre Texte mit der rituellen Formel: „Mögen die Weisen die Weisen lehren, auf daß die Unwissenden unwissend bleiben.“
Ganz anders ging es Jahrhunderte später in Alexandria zu, jener Stadt, die für ihre Bibliothek berühmt war. Vermutlich war diese Bibliothek in den Kolonaden öffentlicher Plätze, in überdachten Nischen der Gassen und in den Sälen des Museions untergebracht: dezentral. Die Stadt-Bibliothek wuchs auf schätzungsweise eine halbe Million Schriftrollen an. Jedes Schiff, das den Hafen anlief, mußte seine Schriften abliefern, damit sie abgeschrieben und der Bibliothek einverleibt werden konnten. Damit entstand in Alexandria erstmals das Problem des Ordnungsprinzips. Denn was nützt das Wissen, das sich nicht finden läßt? Der Alexandriner Kallimachos gilt als der Erfinder des Katalogs – eine Erfindung nicht weniger wichtig als die der Schrift selbst. Jedes Ordnungsprinzip aber organisiert nicht nur die Bibliothek, sondern legt der ganzen Welt eine Logik zugrunde. Jedes Ding wird von nun an durch den Platz in einer Systematik definiert.
Sehr eindrucksvoll muß die Karawane Abdul Kassem Ismaels gewesen sein, Großwesir von Persien im 10. Jahrhundert. Viel auf Reisen, trennte er sich nur ungern von seiner 117.000 Bände umfassenden Bibliothek und führte sie deshalb auf 400 Kamelen mit sich. Die Tiere waren abgerichtet, in alphabetischer Reihenfolge zu gehen, um auch unterwegs bequemen Zugriff zu ermöglichen.
Manguels Buch mangelt es an einer ähnlich praktischen karawanesken Ordnung. Aber das ist Absicht. Denn jede Systematik übt gegenüber den Lesern kategoriale Gewalt aus. Für Manguel aber ist Lesen ein Akt der Selbstbefreiung. So muß man sein Buch auch nicht unbedingt von vorne nach hinten durcharbeiten, sondern hält sich da auf, wo man sich am wohlsten fühlt. Da gibt es zum Beispiel die Geschichte der kubanischen Tabakarbeiter, die 1865 auf die Idee kamen, die Langeweile der Zigarrenproduktion durch einen Vorleser zu mildern. Doch schon nach wenigen Monaten wurde das erfolgreiche Modell verboten, weil Arbeitgeber naturgemäß kluge Arbeiter fürchten. Immerhin gibt es seither Zigarren, die „Graf von Monte Christo“ heißen.
Oder man begibt sich in die Bibliotheken des alten Roms: Orte konstanten Gemurmels und Gebrabbels, denn Lesen hieß zunächst laut lesen, Sprache in Klang zurückzuverwandeln: so wie kleine Kinder lauthals buchstabieren oder wie Muslime mit wiegendem Einsatz des ganzen Körpers ihre Gebete sprechen. Die Entdeckung des stummen Lesens ist erst für das vierte nachchristliche Jahrhundert verbürgt, als Augustinus über den lesenden Ambrosius erstaunt notierte: „Seine Stimme schwieg und seine Zunge blieb unbewegt.“ Erst im 9. Jahrhundert war das stumme Lesen allgemein verbreitet. Seither ist es als Raum „unüberwachter Kommunikation zwischen Buch und Leser“ ein gefährlicher Vorgang – die Ketzergeschichte beginnt.
Die wahre Lust des Lesens aber beginnt für den neuzeitlichen Bürger erst dann, wenn er das Buch auch besitzt. Warum ist das so? Warum stellt man sich zu Hause die Regale mit Dingen voll, die man nie wieder benutzen wird? Manguel nennt viele gute Gründe: Weil Bücher in der Erinnerung daran, wann und wo man sie erworben und gelesen hat, eine Art Inventarverzeichnis des eigenen Lebens darstellen. Weil jedes Buch wenigstens einen interessanten Satz enthält. Weil man sich mit einer imposanten Bibliothek die Aura eines Gelehrten geben kann. Weil darin Spuren vergangenen Lebens enthalten sind: Kaffeeflecken, Notizzettel, bestimmte Gerüche. Vor allem aber, so gesteht er, aus einer „maßlosen Gier“.
Ein bißchen hat das auch mit dem Aberglauben zu tun, man könne sich Wissen einverleiben und Bücher gegebenenfalls „verschlingen“ – so wie der heilige Johannes heißungsgemäß das Buch des Engels verschlang: „Und es war süß in meinem Mund wie Honig, und als ich's gegessen hatte, grimmte mich's im Bauch.“
Welche Bücher man lesen soll, hat Kafka seinem Freund Oscar Pollak geschrieben: solche die beißen und stechen und die uns wecken wie ein Faustschlag auf den Schädel. „Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Zu dieser Kategorie gehört „Die Geschichte des Lesens“ zwar nicht. Zu den Büchern, die man unbedingt besitzen muß, schon.
Alberto Manguel: „Eine Geschichte des Lesens“. Volk und Welt, Berlin 1998, 430 Seiten, 134 Abbildungen, 58 DM
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