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„Ich bin mein eigenes Vorbild“

„Noch muß die Familienkasse bluten“: Auch für Timo Lautenschläger, das hoffnungsvollste deutsche Freeclimbingtalent, gestaltet sich die Sponsorensuche recht schwierig  ■ Von Thomas Herget

Mitunter beschleichen auch Spitzensportler nostalgische Gefühle. Da plätschert der Bach gemütlich vorm Haus, nur zwei Straßen weiter hat die Tradition der hiesigen Elfenbeinschnitzerei politisch korrekt auf sibirischen Mammutzähnen überlebt – und was macht Timo Lautenschläger? Zwängt seinen ohnehin hageren Körper in eine hautenge Lycra- Pelle, zurrt sich die Bleiweste um die Hühnerbrust und klettert mal eben auf dem Dachboden seines Elternhauses in Bad König die Sparren ab. Vergangenheitsbewältigung? Jedenfalls findet sich auf dem Speicher der Kindheit auch der Schlüssel zum Erfolg, der dem Kletterer das Tor zur internationalen Wettkampfbühne öffnete. Und die Knochenmühle in jungen Jahren hat sich für den 19jährigen bislang gelohnt: Vizeweltmeister bei den Junioren wurde er letztes Jahr in Moskau, dazu Dritter bei den Europameisterschaften und Deutscher Meister. Nach der Herren- Europameisterschaft, die er ebenfalls als Dritter abschloß, rang sich Lautenschläger immerhin die bittere Erkenntnis ab: „Die Konkurrenz ist recht groß.“ Eine bemerkenswerte Einsicht von einem, der keck behauptet, sein eigenes Vorbild zu sein.

Die körperliche Fitneß ist hart antrainiert, das Selbstbewußtsein nährt sich aus der heimeligen Vertrautheit der elterlichen Stube. Quasi im eigenen Familienbetrieb betreibt der Selfmademan Lautenschläger seine Kletterkarriere. Vater Werner ist selbst begeisterter Bergsteiger bei den „Odenwälder Kletterfreunden“, die dem deutschen Alpenverein angeschlossen sind. Außerdem stellt er seinem Filius, seit der ausgewachsen ist, je nach Wettkampf ein Trainingsprogramm zusammen, das „in keinem Lehrbuch steht“. Rund 80 Klimmzüge kommen pro Trainingseinheit so zusammen, dazu noch martialische Kraftübungen für die Finger. Die kleineren Muskelgruppen leisteten die Hauptarbeit, so Timo, wenn es gelte, dem Wertungssystem beim Freiklettern (seit 1996 dem Deutschen Sportbund angeschlossen) ein Schnippchen zu schlagen. Höchstens acht Minuten haben die Sportler Zeit, an der Wand so hoch wie möglich zu kommen oder es ganz nach oben zu schaffen – Topklettern nennen die Athleten dieses Kunststück.

Gespickt mit Höchstschwierigkeiten sei so ein Wettkampfparcours, „um zu erreichen“, so Timo, „daß die Leute aus verschiedenen Stellen aus der Wand fallen“. Damit ihm das nicht allzu häufig passiert, trainiert der drahtige Hänfling (54 Kilo bei 1,75 Meter Größe) in der Vorbereitung auf wichtige Events verstärkt die „Blockierkraft“. Das ist jene Konstante, die aus der Unterarmmuskulatur erwächst und den Kletterer noch nach oben zieht, wenn der gesunde Menschenverstand nach Milchsäureeinschüssen schon im Keller liegt. Deshalb hangelt er sich – das Gesicht schmerzverzerrt – mit Holzpflöcken in den Fäusten von Öse zu Öse, sticht dort rein, schiebt dort raus – Sylvester Stallone wäre da längst vor dem eigenen Gewicht in die Knie gegangen.

Ein „optimales Größe-Gewicht-Verhältnis“ bescheinigt auch Trainervater Werner dem Sohn, der die Leidenschaft für die Berge schon als Sechsjähriger bei Klettertouren in den Dolomiten entdeckt hat und auch heute noch die mürben Überhänge eines nahegelegenen Sandsteinbruchs den künstlichen Erlebniswänden aus Gips und Epoxidharz vorzieht. Freiklettern bedeute nicht, stellt Werner Lautenschläger ein durch Werbung und Action-Filme entstandenes Mißverständnis klar, eine Felswand ungesichert hinaufzukraxeln. Vielmehr ginge es darum, sich abgesichert, aber ohne künstliche Hilfsmittel in der Wand zu bewegen. „Turnen am Fels“ sei dies. Wie ein Schachspieler müsse der Kletterer bei jedem Griff seine weitere Route im Blick behalten.

Ungeachtet der Faszination für das ungebundene Naturklettern führte Timos Weg in die Weltspitze reichlich unprosaisch über eine schmale Hühnerleiter an der Hauswand. Sein Trainingscamp im Dachraum über der Garage – eine krude Mischung aus Hamsterkäfig, Matratzenlager und U-Haft. Rund 1.000 bunte Kunststoffgriffe übersäen Decke und Wände wie ein Patchworkteppich. Rot bedeutet leicht, Lila weist den Weg zum höchsten Schwierigkeitsgrad im Hause Lautenschläger. Verschlissene Turnermatten auf dem Boden sollen Stürze dämpfen.

Was treibt ihn dazu, sich täglich die magnesiabestaubten Finger in eierbechergroßen Mulden wund zu reiben und die Füße in zwei Nummern zu kleine Gummischühchen zu zwängen, nur um einen besseren Kontakt zur Senkrechten zu halten? „Die Aussicht, immer besser zu werden.“ Sagt's – und zieht seinen drahtigen Leib, wie an Saugnäpfen hängend, die Decke entlang. Einmal mehr kapituliert die Schwerelosigkeit heute an der lilafarbenen Route.

Obwohl die klettertechnischen Kraftakte den eher ruhigen Vertreter seiner Zunft in schöner Regelmäßigkeit auf die Siegerpodeste der Kraxelbühnen heben, kann der Werkzeugmacher-Azubi mit den gewonnen Preisgeldern keine großen Sprünge machen. Zwar werden Reisekosten und Spesen bei internationalen Wettkämpfen vom Verband übernommen und die Ausrüster kümmern sich um den Nachschub des Equipments, aber bei kostenintensiven Schauveranstaltungen und Trainingslagern müsse immer noch, so Timo, „die Familienkasse bluten“. Immerhin spiele der Arbeitgeber im benachbarten Ort, bei dem auch der Vater beschäftigt ist, kooperativ mit und stelle ihn zu Wettkämpfen frei. Auch die heimeigene Kletterwand haben die Lautenschlägers im Betrieb gezimmert: Die eigenwilligen Griff-Designs aus glasfaserverstärktem Kunststoff sind das Ergebnis kreativer Tüftelei in den Mittagspausen. „Das spart Geld“, erzählt Timo.

Für das Jahr 1997 hat Manager Thomas Tratlehner, selbst einst österreichischer Spitzenkletterer, für seinen Schützling einen zusätzlichen Kapitalbedarf von rund 9.000 Mark für Pkw-Fahrten, Übernachtungskosten, unbezahlten Urlaub und den Unterhalt der eigenen Kletterwand errechnet – eine Summe, die in anderen Trendsportarten durch einen großzügigen Sponsorenpool locker ausgeglichen werden könnte. Doch nachdem charismatische Vorzeigegrößen wie Thomas Bubendorfer und Stefan Glowacz in die Jahre gekommen sind, mangelt es der Szene an schillernden Nachwuchskräften. Von den 40 angeschriebenen Firmen, gesteht Tratlehner, wollte sich nur eine mit dem derzeit hoffnungsvollsten deutschen Klettertalent identifizieren. Ausgerechnet der Abfüller eines stillen Mineralwassers, so erzählt man sich im beschaulichen Bad König belustigt, sei nun auch dafür verantwortlich, daß Timo sein persönliches Umfeld neuerdings verstärkt zum Alkoholverzicht anhält.

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