: Die Geburt der Sprache...
...aus dem Geiste der Schrift – und des Gesangs. Der Chor ist wahr, das Individuum muß sich stets verstellen: Einar Schleefs ungeheures Buch „Droge Faust Parsifal“ zeigt, wie zum Werk des Bildhauers und Theatermachers Kunst und Leben gleichermaßen gehören ■ Von Genia Schulz
Welche Drogen braucht der Leser dieses Buches? Vielleicht viele – ähnlich Brechts Antwort auf die Frage, welche Theorie er für die künstlerische Arbeit braucht. Eine Droge könnte das neugierig-süchtige Lesen sein, das sich an das wuchernde Wurzelwerk „Buch“ von verschiedenen Seiten heranmacht. Wenn man irgendwo die 499 Seiten aufschlägt oder artig als erstes das Vorwort als helfende Übersicht zur Kenntnis nimmt, steht man trotz der zahlreichen Kapitelüberschriften, die wie weiße Schrammen auf schwarzem Stein stehen, vor der Frage, ob denn Regeln in der Abfolge von Themen und Leitmotiven zu erkennen sind: Abendmahlmythos, Verwandlungen von Wein in Blut, Brot in Leib sowie der Trinkgefäße mit heiligen oder banalen Bedeutungen.
Gedankengänge brauchen bei Schleef immer auch ein Geländer, um die Abschweifungen zu verkraften. Der Autor hat dazu ein lockeres Verhältnis, so daß auch der Leser mit der unnachgiebigen Fülle an Ver-rücktheiten umgehen kann. Am Ende des Buches steht ohne weitere Erläuterung auf dem schwarzen Blatt ein weißes Kreuzchen, das ironisch oder ernst den segnenden Gruß „Meinen Lehrern“ widmet. Das könnte die im Buch auftauchenden Namen meinen – von den Haupt-Figuren Bach, Goethe, Schiller, Wagner und Hauptmann abgesehen –, ob sie hinter dem Grabstein leben oder „erledigt“ verschwunden sind. So könnte die Widmung auch „Meinen Lesern“ gelten, die bis zum Ende durchgehalten haben.
1994 nahm Schleef die Arbeit an einer Inszenierung von Wagners Bühnenweihfestspiel „Parzifal“ auf, die zu einer Aufführung nicht kam. Das Scheitern auf der praktischen Ebene kann sich auf der reflexiven als sinnvoll erweisen, auch, weil man die Auswahl des Arbeitsprozesses verbunden mit persönlichen Erfahrungen und Lebenserinnerungen durchsetzt vorfindet.
Trotz des übersichtlichen Vorworts hat der Autor eine freie Bahn für Assoziationen, Überkreuzungen und Abweichungen in der Deutung seiner Beschreibungen zugelassen. Die Zusammenhänge zwischen den Ankündigungen in den Titeln der jeweiligen Kapitel sind nicht nur in der Darstellung mit dem Gegenstand verbunden, sie haben einen poetischen Klang. Und einen eigenen literarischen Ausdruck: sachlich.
Adorno schreibt in einem kurzen Text Mitte der 50er Jahre über die „Partitur des ,Parzifal‘“ von Wagner, daß sich gerade in der Schwerfälligkeit der Komposition das „befremdend Neue“ verbirgt. „Das Moment des Umständlichen“ hänge zusammen mit seiner „suggestiven Gestik, der Neigung, den Hörer totzureden“. Schleef schafft Ähnliches mit seiner Partitur-Lektüre, die seine Regiearbeit begleitet hat und anschließend erweitert wurde. Dem Schlußsatz Adornos paßt sich das Werk Schleefs an: „Was am Parzifal überdauert, ist der Ausdruck der Hinfälligkeit von Beschwörung selber.“ Eine auffällige Besonderheit.
Heiner Müller hat seinen Blick auf Einar Schleefs künstlerisches Werk auf einen Punkt gebracht: „Ich bewundere seine Freiheit im Umgang mit Zwängen, denen sein Talent ihn aussetzt. Sein Talent stammt aus dem Reich der Mütter, das ein Reich der Notwendigkeit ist.“ Das spielt auf Goethes Faust- Worte zur Macht der Mütter aus dem Unterboden an wie auf Parzifals Mutter Herzeleide, die – vom Sohn verlassen – stirbt, und auf Schleefs zweibändige „Dokumentation“ des Lebens seiner Mutter „Gertrud“ (Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre entstanden). Geschrieben in ihrer regionalen Sprache, die ihn geprägt hat.
Der Grundton verbindet beide. Die minutiösen Detail-Beobachtungen sind sein eigenes Feld, das er auch im Drogen-Buch nicht verläßt. Die Muttersprache als Humus, der immer wieder neu beackert werden muß. „Nu mach ock, Mann, und sprich an Wort, 's kann een'n ja orntlich angst werd'n“, sagt „Mutter Hilse“ zu ihrem eben erschossenen Mann, dessen Tod sie noch nicht wahrgenommen hat. Es sind die abschließenden Worte in Hauptmanns „Die Weber“ – ein politisches Drama, das auf Mitleid beim Zuschauer setzt. Schleef hat es neben dem ebenfalls frühen Sozialdrama „Vor Sonnenaufgang“ als ein für ihn zentrales Werk für das eigene Chor-Theater als Beispiel benutzt. Der Chor kann von der einzelnen Mutterstimme vertreten werden – wie in Brechts Agitationsstück „Die Mutter“, die ebenfalls die Abschlußworte chorisch rezitiert: „So wie es ist, bleibt es nicht./ Wenn die Herrschenden gesprochen haben/ Werden die Beherrschten sprechen.“
Vor Hauptmanns „Sonnenaufgang“, den Schleef letztlich mit erfolgreicher Anerkennung in Frankfurt 1986 inszenierte, begann er an diesem Ort einen Versuch, mit einer Text-Kombination von Euripides und Aischylos eine Chor-Tragödie: „Die Mütter“ werden hier von einem wuchtigen Frauen-Sprech-Chor unterschiedlichen Alters vertreten. Das rhythmische Sprechen und die rhythmischen Körperbewegungen wirkten auf den Großteil des Publikums wie eine fassungslose Gewalt. Das Kollektiv-Chorische der einheitlichen Frauenstimmen verstand man als Zeichen einer scheinbar nicht mehr beherrschten Meute. Das Stück wurde alsbald abgesetzt, lebt aber in der Berichterstattung und den Videoaufnahmen weiter. Für manche gerade in seiner Radikalität ein Schleef-Mythos-Stück.
„Die Frage, ob Alleinsein Individualität bedeutet, ob Individualität mit dem Bewußtwerden persönlicher Vereinsamung, von allen getrennt zu sein, zu keinem auch nur die geringste Verbindung aufnehmen zu können, verbunden ist, behandelt das Drama anders als das Leben.“
Schleef beginnt 1994, in seinem 50. Lebensjahr, das Drogen-Buch mit unterschiedlichen Ansätzen zu schreiben, die vielleicht doch in einem weiten Zusammenhang stehen: vom ähnlich alten Faust, vom unschuldigen Tor Parzifal, vom Wunsch nach einer „Welthellsicht“, die durch Mitleid Wissen erringt und schließlich eine Wunde heilt. „Hellsicht des Schmerzes“ hat Hauptmann für sich als Wegweiser genommen – auch das wird Schleef bekannt sein. Daß ein schlechter Stand der Dinge durch einen Liebeskuß (Kundry) eine Veränderung der Verhältnisse möglich macht, gibt dem Unternehmen einen strahlenden Glanz.
Der Weg dorthin ist jedoch lang. Schleef berichtet von seinem grausamen Unfall als 16jähriger, der ihn ein Jahr lang an einen Klinikraum mit sterbenden Patienten band. Er war aus einem fahrenden Zug gefallen. Eine der vielen Verletzungen hat sich nie vollständig heilen lassen: das Stottern. Schleefs große Fähigkeit, zu schreiben, zu malen, Regie, Kostüm- und Bühnenbild in die eigene Hand zu nehmen, Raum und Zeit für sich zu gestalten, Herkunftsort und Aufenthalte im ausgewählten Dunkel zu fotografieren, gilt auch der Selbstfindung und -darstellung. Das laute Sprechen in der Theaterpraxis gehört zu seinen ganz eigenen Erfahrungen: „Es waren 2 Stimmen in mir. Manchmal halte ich mir den Mund zu, beiße auf die Lippen, wenn ich innerlich zuviel spreche, wenn mir die Worte gegen die Schläfen hämmern, wenn ich sie bei mir behalten will, nicht zu einem Monologisierenden werden möchte, Angst davor habe, mich nicht mehr zu kontrollieren, nicht mehr bemerke, daß ich laut spreche.“
Diese Erfahrung überträgt sich auf die Bedeutung des Sprech- Chors. Seine Ausdruckskraft soll machtvoll, angreifend, unüberhörbar sein und auf der Bühne die sich kollektiv bewegenden Körper in ihrem Ton-Rhythmus – vom Wort unabhängig – unübersehbar machen. Schleefs Wunde, die er am Ende des Drogen-Buchs in kurzen Kapiteln heilend schließt, muß nicht mehr bluten, weil sich das stotternde Sprechen im Umgang mit der Schrift auslöst.
Der erste Satz im Vorwort betont, daß die deutsche Klassik sich nährt vom Chor im antiken Theater, das die Stimme des Kollektivs vertritt. Dagegen steht das individualisierte Sprechen bei Shakespeare. Schleef entwickelt hier eine eigene Schlußfolgerung. In seinem Kapitel „Chor-Pest“ heißt es: „Nur der Chor ist wahr, so Kafka, das Individuum lügt. Denn das Individuum steht nicht zu seiner Krankheit. Es versucht diese zu verdrängen, zu vergessen, laboriert heimlich an ihr, kämpft gegen sie, doch die Krankheit fordert ihren Tribut, zerstört die Figur von innen. Diese Zersetzung kontert die Einzelfigur durch ihre Erscheinung, sie muß sich für jede Begegnung mit einer anderen herrichten, um sie zu täuschen.“
Wer in der antiken Rolle „Chor“ einen Wahrheitsträger sieht, wird im christlichen Mittelalter nicht nur die Legende von den Gralsrittern erwarten, die den Schlußchor in Wagners „Parzifal“ bilden, sondern auch die Klosterhallen aufsuchen, in dem die gregorianischen Gesänge ein gläubiges Kollektiv zusammenhalten, bevor das Schweigen zur eigentlichen Andacht wird. Der „Unisono“-Ton füllt den Raum, in dem eine minimale körperliche Bewegung in der Gebärde liegt, mit der der Chorführer den melodischen Gleichklang der Chor-Stimmen unterstützt. Alle stehen in klösterlicher „Uniform“ im offenen Halbrund.
Als Ersatzschauspieler in der Inszenierung von Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ hat Schleef am Berliner Ensemble die Rolle des Herrn übernommen. Hier tauchen die Handgebärden des Chorführers auf. Der Text in seiner Hand läßt sich souverän beim Spiel vorzeigen. Das könnte eine der (Er-)Lösungen gegen den Einbruch des Stottern im Sprechen sein: Die geschriebene Sprache beherrscht die Szene – nicht anders geht es im Drogen-Buch zu. Trotz Lücken, Unterbrechungen, Abbrüchen, Pausen und neuen Ansätzen und altbekannten Motiven gilt: „Das Unbeschreibliche/ Hier ist es getan.“ Faust II, Chorus Mysticus. So kann der Leser mit eigener Wahl in den Schleef-Text einsteigen, einen Durchlauf probieren oder beim Deuten und Umdeuten gespannt abheben.
Einar Schleef: „Droge Faust Parsifal“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997, 499 Seiten, 56 DM
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