: Die Deutschen grenzen aus
In einer ebenso beunruhigenden wie niederschmetternden Studie beschäftigt sich Emmanuel Todd mit dem Schicksal der Immigranten in der EU ■ Von Eberhard Seidel-Pielen
Todd kann dem Projekt Europa nicht viel abgewinnen. Er richtet sein Augenmerk auf einen in der deutschen Diskussion völlig vernachlässigten Aspekt, dem Umgang der wichtigsten EU-Mitgliedstaaten mit ihren Minderheiten. Sein Fazit: In einem geeinten Europa droht der aggressive Differentialismus der Deutschen, das herrschende Abstammungsprinzip (ius sanguinis), sich auf alle europäische Staaten auszubreiten. Gefährdet würde damit nicht nur der französische Universalismus, der in der Vergangenheit jede Komponente der Volkszugehörigkeit, Herkunft oder Abstammung zurückgewiesen hat. Auch die in Frankreich praktizierte Assimilierung der Zuwanderer wäre in Zukunft gefährdet. „Zu glauben, ein Deutschland, daß die auf seinem Boden geborenen Türken nicht als seine eigenen Kinder anerkennt, werde Franzosen maghrebinischer, karibischer oder kamerunischer Herkunft als Europäer anerkennen, spricht für unverzeihliche Naivität. Und wie könnten sich diese Menschen ihrerseits mit einem weißen, christlichen Europa identifizieren, das sich gegen Nordafrika abgrenzt?“
Nach Todd gibt es nur zwei mögliche Schicksale für Einwanderer: Assimilation oder Segregation. Welches Prinzip nun wirkt, hängt eben von der anthropologischen Grundstruktur der Aufnahmegesellschaften ab. In Deutschland, Großbritannien und den USA findet eine starke Segregation statt, da in diesen Gesellschaften die Überzeugung von der Verschiedenheit des Menschen tief im Unterbewußtsein festgeschrieben ist. Dieses Unterbewußtsein wird bei allen Modifikationen auch heute noch von den einst vorherrschenden, vorindustriellen bäuerlichen Familienstrukturen bestimmt. Ob die Brüder damals in der Erbfolge als gleich oder ungleich galten, hat bis heute weitreichende Folgen. Die Stellung der Brüder zueinander ist ursächlich für ein Menschenbild verantwortlich, das von der Gleichheit oder Ungleichheit aller Menschen ausgeht. Todds Entdeckung: Allein in Frankreich findet aufgrund der tief im kollektiven Unterbewußtsein verankerten Gewißheit von der Gleichheit aller Menschen ein Assimilationsprozeß der Zuwanderer statt, der erwarten läßt, daß die Zuwanderergruppen binnen zweier Generationen in der französischen Bevölkerung aufgehen. Den USA dagegen ist es trotz aller Anstrengungen des liberalen, demokratischen Gewissens nicht gelungen, das Land von der Segregation zu befreien. Neben dem bewußten Postulat der Gleichheit aller Bürger wirkt im Unterbewußtsein das Wissen von der Ungleichheit der Menschen, was in den USA die Schwarzen betrifft. Dieser Widerspruch bringt die Schwarzen in eine ausweglose Situation.
Anders als in den USA und Großbritannien, wo sich Differenz entlang rassischer Merkmale festmacht, richtet Deutschland seinen Blick auf die religiöse Überzeugung. „Der deutsche Differentialismus macht mit seinen Klassifikationsversuchen nicht bei den sichtbaren Unterschieden, nicht bei der äußeren Hülle der Lebewesen halt. Er rekurriert auch auf unsichtbare Unterschiede; so gilt beispielsweise das jüdische Wesen als besonders boshaft. In Deutschland verhindert diese Art von Differentialismus, daß sich religiöse Minderheiten tatsächlich in die Gesellschaft assimilieren können“. Die Abgrenzung wird um so aggressiver, je fortgeschrittener die Assimilation religiöser Minderheiten ist.
So bescheinigt der Autor den Türken in Deutschland zwischen 1960 und 1985 eine hohe Anpassungsleistung. Dessen ungeachtet verfestigt sich seit 1985 die Segregation. Mit Wesenseigenschaften der türkischen Zuwanderer hat dies ebensowenig zu tun wie mit einer Islamisierung der Einwanderer oder gar einen Rückzug auf die eigene ethnische Gruppe.
Um 1985 erreicht die erste Generation von Türken, die in Deutschland aufgewachsen ist, das Erwachsenenalter. Sie spricht Deutsch, unterscheidet sich von der Aufnahmegesellschaft weniger als noch ihre Eltern. Eine Verminderung der objektiven Andersartigkeit führt in einer differentialistischen Gesellschaft allerdings nicht zu einer Abnahme der Angst, sondern zu einer Zunahme. Vor allem als mit Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes im Jahr 1991 die Möglichkeiten der Annäherung zwischen Einwanderern und Aufnahmegesellschaft besser werden, setzt eine Welle ethnisch begründeter Gewalt ein. Und der Prozentsatz der Gewalttaten ist vor allem in protestantischen Gebieten besonders hoch, weil dort, so Todd, das Verlangen nach sozialer Homogenität traditionell stärker ist als in katholischen Gebieten, die dem Ideal der deutschen Homogenität weit weniger anhängen und stärker dem katholischen Universalismus verpflichtet sind.
Während des Prozesses der Wiedervereinigung hat die Aktivierung antitürkischer Ressentiments viel zur Homogenisierung der neudeutschen Nation beigetragen. Der Gegensatz zwischen ehemaligen DDR-Bürgern und Westdeutschen wurde auf diese Weise symbolisch verringert. „Man kann sich sogar fragen, ob nicht die Intensivierung antitürkischer Emotionen während der Phase der Wiedervereinigung ihren funktionalen Sinn gehabt hat.“
„Das Schicksal der Immigranten“ ist ein fulminantes Plädoyer gegen die angelsächsische Ideologie des Multikulturalismus. Sie ist für Todd nichts anderes als „gut gemeintes Gerede vom Recht auf Differenz“, das einen konkreten Unterschied voraussetzt. Dieser Unterschied löst aber immer Verunsicherung aus. Todd setzt dem Multikulturalismus den Universalismus der Französischen Revolution entgegen, die die ganze Menschheit zu gleichberechtigten „Franzosen“ machen wollte. Im Klartext bedeutet dies nichts anderes als die vollständige Integration von Einwanderern.
Indikator für den Grad einer so verstandenen Assimilation der Einwanderer ist der matrimoniale Tausch, die Zahl der Eheschließungen zwischen Immigranten und Altbürgern. Sie offenbart, wie stark oder wie wenig eine Gesellschaft auf Differenz setzt. In Deutschland findet eine Vermischung zwischen Deutschen und türkischen Einwanderern, anders als zum Beispiel mit Zuwanderern, praktisch nicht statt. Begründet wird dies hierzulande gerne mit dem Verweis auf den Islam, der es verbiete, daß eine Muslimin einen Nichtmuslim heirate. Alles Unsinn, meint Todd. Vielmehr existiere in Deutschland ein starkes Tabu, sich mit der Gruppe, an der sich der Differentialismus manifestiert, zu mischen. Ganz anders in Frankreich. Hier ist die Anzahl der Geburten bei (muslimischen) algerischen Frauen mit französischen Männern zwischen 1975 und 1990 von 6,2 Prozent auf 27,5 Prozent angestiegen. In Deutschland dagegen stagniert die Anzahl der Geburten bei türkischen Frauen mit deutschen Männern. Sie stieg zwischen 1975 und 1990 von 0,5 Prozent auf 1,2 Prozent. Für Todd nur ein weiteres Indiz, daß Deutschland nachhaltig seine Homogenität verteidigt und Lichtjahre vom französischen Universalismus entfernt ist.
Emmanuel Todd: „Das Schicksal der Immigranten. Deutschland, USA, Frankreich, Großbritannien“. Claassen Verlag 1998, 420 Seiten, 42 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen