: Marthe verschmilzt mit der Badewanne
■ Körper, Flecken, Tapetenmuster: Die Londoner Tate Gallery zeigt den Maler Pierre Bonnard als Spezialisten für Licht und Oberflächen
Es hat lange gedauert, bis die Kunsthistoriker bereit waren, ihr Urteil über Pierre Bonnard zu revidieren. Jetzt erst wird dem spätimpressionistischen Maler der Status eines radikal Modernen gegeben. Seine Verschlossenheit und eine geradezu bekennende Anspruchslosigkeit dürften nicht wenig dazu beigetragen haben, daß der 1867 in Fontenay-aux-Roses geborene Beamtensohn nie aus dem Schatten seines weltmännischen Freundes Matisse heraustrat. Dabei wurde er schon in den neunziger Jahren von den führenden Pariser Kunsthändlern und Galeristen Durand-Ruel, Bernheim-Jeune und Vollard entdeckt, 1891 stellte er erstmals im Salon des Indépendants aus.
Die Anlässe zum Malen findet Bonnard in seiner unmittelbaren Umgebung. Die Beobachtung einer Partie Croquet im Garten seines Großvaters verwandelt er auf einer an die Wand gepinnten Leinwand in eine Fläche ineinandergewirkter Braun-, Grün- und Gelbtöne, die mit der Bildebene übereinstimmen. Das 1892 entstandene Bild eröffnet die Bonnard-Retrospektive mit über hundert Gemälden und Papierarbeiten in der Londoner Tate Gallery.
Bonnard, der mit seinen Freunden Vuillard, Sérusier, Denis und Roussel 1888 die an Gauguin und am japanischen Holzschnitt orientierte Gruppe der Nabis (das hebräische Wort für Propheten) gründete, sah im Entzug von Raum und Volumen die einzige Möglichkeit, den systemerhaltenden Impressionismus zu überwinden. Im Bild „Intimacy“ sind daher zwei Figuren so sehr mit dem Hintergrund verwoben, daß man ihre Körper zunächst nur als fleckenartige Unterbrechungen des Tapetenmusters wahrnimmt.
„Ich habe alle meine Themen zur Hand“, sagt er, „ich mache Notizen, dann gehe ich nach Hause, und bevor ich zu malen beginne, denke ich nach. Ich träume.“ Seit er mit Marthe zusammenlebt, braucht er auch das Haus nicht mehr zu verlassen. Seine Augen können nicht genug bekommen von den täglichen Ritualen in Bad und Ankleidezimmer, an denen Marthe ihn teilnehmen läßt. Schon in den ersten Aktbildern der späten neunziger Jahre – Marthe als verführerisches Nymphchen zwischen verknautschten Bettlaken – sind alle guten Vorsätze der Nabis für eine dekorativ-flächige Malerei vergessen.
Mit den erotisch aufgeladenen Interieurbildern beschäftigt sich Bonnard bald ein ganzes Jahrzehnt, wobei monochrom braune und blaugraue Töne dominieren. Der Wandel kommt mit dem „Badezimmer“ von 1908: Marthe steht im Gegenlicht, die Helligkeit scheint die Farben zu verzehren. Bonnard macht jetzt den Versuch, die Fotografie auf ihrem ureigensten Terrain, der „Wiedergabe von Augenblicken angehaltener Zeit“, zu schlagen. 1913 ist auf dem Pariser Herbstsalon „Das Eßzimmer auf dem Land“ zu sehen, laut Apollinaire „eines der dort am meisten bewunderten“ Bilder. Licht strömt durch Tür und Fenster in einen nur im Ausschnitt gegebenen Raum und mischt die Farben der Wände und Möbel vollkommen neu. Marthe schaut durchs geöffnete Fenster von außen nach innen. Sie, die man durch die farbliche Verschmelzung der Dinge erst allmählich wahrnimmt, dürfte für den anwesenden, aber im Bild nicht sichtbaren Maler der Anlaß gewesen sein, die momentane Situation von Außen und Innen in Skizzen zu protokollieren.
Sarah Whitefield, Kuratorin der Schau, setzt bei der großzügigen Hängung der Bilder mit ständig wiederkehrenden Sujets – Marthe mit Hund und Katzen im Badezimmer, am Frühstückstisch, auf der Terrasse – auf Trennung statt auf Reihung. Schließlich geht es darum, Bonnards Modernität herauszukehren. Die oft extreme Aufsicht gibt ihm die Möglichkeit, die Dinge aus dem Bildzentrum an die Peripherie „rutschen“ zu lassen – unter Mißachtung einfachster kompositorischer Regeln. Das Nahe und das Ferne sind gleichermaßen unscharf und vage in ihrer gegenständlichen Formulierung. Eine karierte Tischdecke („Le Café“) hält die Bildmitte besetzt, die kaffeetrinkenden Personen müssen ihren Platz am äußersten Bildrand einnehmen. In „Akt im Bad“ (1925) sind gerade noch die Beine des Modells zu sehen, umrahmt von der monströsen Form des Wannenrandes.
Bonnard benutzt bestimmte Strategien, um das Erkennen hinauszuzögern. Er malt nach eigenem Bekunden aus der Erinnerung, weil er fürchtet, bei direktem Kontakt mit dem Gegenstand diesem zu „erliegen“. Seinen Modellen befiehlt er, sich frei im Raum zu bewegen. Die gezielte Verunklärung von Komposition und einzelnem Gegenstand läßt sich nur mit der für Bonnard spezifischen Bildgenese erklären.
John Elderfield stellt in seinem Katalogbeitrag die interessante Frage, ob nicht die mit Empfindungen gemischte Erinnerung an das erlebte Sehen selbst und nicht die Erinnerung an Dinge und Situationen Bonnard zum Malen verführte. Der mit Hilfe einer betont unpräzisen Malerei ins Bild zurückgeholte schweifende Blick des Voyeurs überträgt sich auf den Betrachter. Ob „Großer gelber Akt“ (in der Pose der Medici- Venus) oder „Tischecke“: die Bilder, die gegen alle Regeln fotografischer Abbildung verstoßen, haben etwas von der ursprünglichen Erregung im Augenblick des Sehens bewahrt. Der Maßstab für die Qualität der Bilder ist bei Bonnard, im Gegensatz zu Matisse, eine Frage der sichtbar werdenden Kraft seiner Liebeserklärung an die vertraute Umgebung.
Drei späte „Badezimmer“-Variationen aus den Jahren 1936 bis 1941 werden in Londen durch einen eigenen Raum dem andächtigen Nachempfinden empfohlen. Man blickt von oben auf den ausgestreckten Körper Marthes, gerahmt vom Wannenrand, verschleiert vom Blau des Wassers. Feuchtigkeit glänzt auf den Kacheln, die im flirrenden Farblicht aufgelösten Raumgrenzen entziehen den Bildern das Alltägliche. Sie entstanden sechs Jahre vor Marthes Tod, als sie an einer schweren Neurose litt und in vollkommener Isolation lebte.
Die Ausstellung endet mit einigen bekenntnishaften Selbstbildnissen des Künstlers. Wie in den Porträts von Marthe ist das Gesicht verschattet, die Augen sind geschlossen oder blicklos. Bonnard sieht sich nicht mehr als Maler, sondern als alter Mann, der weiß, daß er jetzt alle Fragen an sich selbst zu richten hat. Gabriele Hoffmann
Pierre Bonnard, bis 17.5. Tate Gallery, London; anschließend, vom 17. Juni bis 13. Oktober, Museum of Modern Art, New York. Der Katalog kostet 25 Pfund
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