: Wenn der Winter gähnt
Über Hirschkäfer, Neandertaler und Rhabarber: Das ganz normale Phänomen Frühjahrsmüdigkeit, und wie man es überschläft ■ Von Lisa Schönemann
Der faulste Eisbär und der letzte Hirschkäfer sind längst aus dem Winterschlaf erwacht. Nur dem Zweifüßler fällt es noch schwer, sich dem allgemeinen Aufbruch anzuschließen. Während die Tiere neue Nahrung suchen, grämt sich der Mensch über den Winterspeck. Der gemeine Zeitgenosse hängt durch und ist ständig müde. Mit schlurfenden Schritten schleicht er gähnend und unkonzentriert durch seinen Alltag. Obwohl die Diagnose „Frühjahrsmüdigkeit“leicht zu stellen ist, ist sie in keinem medizinischen Lehrbuch zu finden.
Schon die Neandertaler waren ihrerzeit im Winter auf lange Schlafphasen programmiert und in der helleren Jahreszeit länger wach. Wird der Körper auf das Sommerprogramm umgestellt, kommt es vorübergehend zu einem Schlafdefizit. Für die Therapie dieses wiederkehrenden Leidens, das sich lückenlos an die Winterdepression anschließt, um später von dem Dauergemaule über den verregneten Sommer abgelöst zu werden, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: den Mitmenschen weiterhin gnadenlos auf die Nerven zu gehen oder auf handelsübliche Vitamincocktails in Brauseform zu vertrauen. Deren Placebo-Effekt ist aber weiterhin umstritten.
Masochisten bleibt der goldene dritte Weg: im Selbstversuch die Muntermacher zu testen, die von den Krankenkassen empfohlen werden. „Nach dem Aufstehen ein paar Kniebeugen am offenen Fenster, morgendliche Wechselduschen und sportliche Betätigung wie etwa Walking sorgen für den nötigen Pepp“, glaubt Rolf Mentzell, Sprecher der Hamburger DAK. „Wer Treppen steigt statt den Fahrstuhl zu benutzen, überwindet in kleinen Schritten die eigene Bequemlichkeit“, orakelt die Pressestelle der AOK und spendet Trost: Frühjahrsmüdigkeit sei „eigentlich ein ganz normaler Vorgang“.
Zwei Liter Flüssigkeit pro Tag sollen dem Organismus vermeintlich ebenso auf die Sprünge helfen wie Rhabarber, Erdbeeren und andere Dopingmittel. Die AOK-Ernährungsberaterin Katharina Titzck rät: „Mineralstoffe und Vitamine sind Balsam für Haut und Nerven. Aber nicht nur sie helfen gegen Frühjahrsmüdigkeit, sondern auch ausreichender Schlaf.“
Hab ich mir gleich gedacht: Der Winterschlaf war viel zu kurz.
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