: Mit Urtönen raus aus dem Zettelkasten
■ Wo bitte ist hier eigentlich die Provinz? Das „Dave Holland Quintet“spielte am Mittwoch abend in Syke
„In einer Bank hab ich noch nie gespielt, vielleicht gibt es ja ein paar Kostproben umsonst!“scherzte der Bandleader Dave Holland zu Beginn seines Auftritts. Und tatsächlich ist es kurios, daß der Syker Verein „JFK“(Jazz, Folk, Klassik) seine Konzerte in der Aula der Kreissparkasse abhält, die man nur durch einen Nebeneingang und ein enges Treppenhaus erreichen kann. Dies mag dem Bremer Flaneur als rührend provinziell erscheinen, aber um guten internationalen Jazz zu hören, muß er entweder nach Syke oder in das Vegesacker KITO pilgern. Wo liegt da nun wirklich die Provinz?
Dieses Konzert war eindeutig ein Höhepunkt für den Verein von Musikliebhabern. Vorher hatten bei ihnen schon John Abercrombie oder Barbara Dennerlein begeistert, aber der britische Bassist Dave Holland ist so selten auf der Bühne zu erleben, und seine aktuelle Gruppe wird so einhellig gefeiert, daß man den Sykern nur zu ihrem guten Geschmack und Verhandlungsgeschick gratulieren kann. Denn der Auftritt enttäuschte die hohen Erwartungen nicht: Dave Holland, der in den 70er Jahren die Band von Miles Davis (!) verließ, weil er „free music“spielen wollte, macht jetzt tatsächlich freien Jazz.
Auch der Free-Jazz hatte eine enges Korsett von Konventioen, die ihn schnell vorhersehbar und altmodisch werden ließen, und die wirklichen Visionäre der Musik, zu denen Holland gehört, befreiten sich von diesen Grenzen und beziehen nun die gesamte Tradition, Avantgarde, verschiedenste Einflüsse und Stimmungen in ihre Musik ein. Bei Holland sind Albumtitel in diesem Sinne programmatisch: „Live Cycle“(Zirkel des Lebens) und jetzt „Points of View“(Gesichtspunkte) spielt er auf seinem akustischen Baß, komponiert er als weitläufige Tonlandschaften und arrangiert er mit kongenialen Mitspielern, die genauso neugierig und sensibel wie er ihre Musik als großes Abenteuer ansehen.
Als erstes fiel bei dem Konzert der sehr transparente Sound auf. Mit Vibraphon, Posaune, Saxophon, Schlagzeug und Baß ist das Quintett so instrumentiert, daß jede Nuance hörbar wird. Keine Gitarre, kein Piano oder gar Keyboard, die oft den Ton eher verwaschen als erstrahlen lassen. Die gespielten Stücke waren jeweils komplexe Kompositionen, fast Suiten, die eher um ein Genre, eine Stimmung, als um eine Melodie zentriert waren. So kündigte Holland ein Stück als Portrait seiner Frau an (zu dem seine Mitspieler verdächtig inspirierte Soli beisteuerten), und auch eine scheinbar simple Ballade wurde zu einem 20minütigen neo-romantischen Soundgebilde. „Postmoderner Jazz“ist das Schlagwort von Star-Kritiker Joachim-Ernst Berendt für diese Vielzahl von Stilen und Einflüssen, aber das Etikett ist zu plakativ für diese Musik; dafür ist sie zu tief gefühlt und hat zu wenig vom Zettelkasten. Da wird nicht einfach zitiert, und die alten Formen wirken nicht abgestanden oder neu angepinselt – Holland nutzt einfach souverän den großen musikalischen Reichtum, den er sich nach der Arbeit mit so unterschiedlichen Kollegen wie Miles Davis, Betty Carter oder Derek Bailey erspielt hat.
Diese Routine zeichnet auch Holland als Bandleader aus. Das kollektive Spiel ist hier wichtiger als das große Solo, und gerade deswegen konnten seine jungen Mitspieler um so brillanter glänzen. Steve Nelson mit einem sehr vielseitig und warm klingenden Vibraphon, Steve Wilson und Robin Eubanks mit beseelten Soli auf Saxophon und Posaune, dann aber auch mit funkigen Bläsersätzen, und als größte Überraschung der junge Schlagzeuger Billy Kilson mit abenteuerlichen Rhythmusverschiebungen, der seinen aufregendsten Solopart nur auf einem Becken und dem Rand der Snare-drum trommelte. Und immer präsent war der majestätisch fette Baß-Ton von Dave Holland – ein unverwechselbarer Sound. Solch ein ureigener Ton zeichnet die wirklichen Meister des Jazz aus. Wilfried Hippen
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