: Blaue Verbindungslinien nach Übersee
Massive Attack stehen für eine britische Spielart des HipHop und eine Ästhetik der globalen Kultur. Mit „Mezzanine“ wenden sich die Erfinder des Bristol-Sounds dem Post-Punk der Achtziger zu. Kein harmonischer Wohlklang, sondern revolutionäre Konfrontation ■ Von Mark Terkessidis
Das kleine Städtchen Bristol war schon im 18. Jahrhundert ein Knotenpunkt überseeischer Beziehungen zwischen Großbritannien, den Vereinigten Staaten und der Karibik – allerdings auf eine eher unrühmliche Weise: Bristol war einmal der wichtigste europäische Umschlagplatz für den Handel mit Sklaven. Nach dem Ende der Sklaverei verschwand das Nest lange von der Landkarte, um erst am Ende des 20. Jahrhunderts wieder einige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dabei wurde Bristol erneut zu einem Kreuzungspunkt der unterschiedlichsten überseeischen Verbindungslinien, jedoch auf eine vollkommen andere Art. Denn 1991 bündelte eine Band namens Massive Attack Rhythmen und Stimmen, die umgekehrt auf den Bahnen des ehemaligen Sklavenhandels ins Königreich zurückgeströmt waren, und erfand dadurch den sogenannten Bristol-Sound: Auf der LP „Blue Lines“ verknüpften sie die britische Musikentwicklung der Jahre zuvor (House, Clubsoul etc.) mit US-amerikanischem HipHop und einem schweren, phantastisch tiefen karibischen Reggae- Vibe. Dieser Sound war buchstäblich unerhört und schlug selbst in der verwöhnten Popkultur Großbritanniens ein wie eine Bombe.
1998 allerdings gehört der Bristol-Sound zu den festen Bestandteilen der britischen Musikszene. Dazu haben neben Massive Attack vor allem Portishead, Smith & Mighty oder Tricky (früher selbst assoziiertes Mitglied der Band) beigetragen. Und als vor etwa zwei Jahren schließlich der sogenannte TripHop zu boomen begann und plötzlich eine ganze Reihe von Gruppen schwere Midtempo-Beats und eine elegische Atmosphäre zu ihrem Markenzeichen machten, drohte sich der Stil sogar in den seichten Gewässern der Langeweile zu verlieren. Dennoch ist das Erscheinen eines neuen Albums von Massive Attack immer noch ein Ereignis. Denn Daddy G, Mushroom und 3D haben niemals versucht, ihr Erfolgsalbum „Blue Lines“ formatgetreu wieder aufzulegen. Zwar änderte sich ihre Arbeitsweise nicht prinzipiell, aber bereits auf dem Nachfolger „Protection“ aus dem Jahre 1994 wandten sie sich neuen musikalischen Einflüssen zu. Während Soul und Reggae ein wenig in den Hintergrund traten, klang „Protection“ – nicht zuletzt durch Gastsängerinnen wie Tracey Thorn von Everything But The Girl – weitaus mehr wie eine Popplatte.
Für das Album „Mezzanine“, das in dieser Woche erscheint, hat die Band nun wieder neue Bezugspunkte gesucht. Gleich im ersten Stück wird man mit der wohl auffälligsten Veränderung konfrontiert. Denn an einer dramatischen Stelle des Tracks, der sonst alle Elemente des Massive-Attack-Sounds enthält – ein tiefer Baß, schwere Beats, die wehmütige Stimme des Reggae-Sängers Horace Andy –, bricht unerwartet eine rockige Gitarre hervor. Wie Daddy G und Mushroom im Interview erklären, war die Verwendung von „richtigen“ Gitarren doppelt motiviert.
Zum einen wollte die Band ihre Musik mit Hilfe eines Gitarristen von vornherein mehr in Richtung Live-Auftritt orientieren. Zum anderen bediente man sich für Atmosphäre und Samples von „Mezzanine“ maßgeblich beim Post- Punk der achtziger Jahre: The Wire, Gang of Four, The Cure etc. Für diesen Einfluß stehen auch die raumgreifenden Gesangsauftritte von Liz Fraser (Cocteau Twins). Insgesamt wird auf „Mezzanine“ weit inhomogeneres Material verarbeitet als auf den Vorgängern. Das führt zu produktiven Reibungen und unterstützt eine Stimmung, die zwischen Depression und Angriffslust schwankt.
Die Band selbst findet ihre neue Wendung keineswegs überraschend. „In den achtziger Jahren wurden wir kurz hintereinander bombardiert mit einer unglaublichen Vielfalt von Stilen“, erzählt Daddy G, „die Reste von Punk, New Wave, New Romantic, Two Tone und dann HipHop. Dabei hat uns sicher HipHop am meisten beschäftigt. Aber wir versuchten auch all die anderen Sachen zu verarbeiten, die wir gehört hatten.“ Tatsächlich könnte man Massive Attack am ehesten als spezielle britische Spielart von HipHop charakterisieren. Den Hauptunterschied gegenüber dem US-HipHop sieht Daddy G dabei im „multikulturellen“ Element der Band – ihre Musik basiere nicht auf Segregation, sondern auf Vermischung.
Allerdings ist der Massive Attack-Stil auch kein „Crossover“, also eine oberflächliche Verbindung von oft überdeutlich akzentuierten schwarzen und weißen Stilelementen. Ihre Platten sind auf eine weit intensivere Art „hybrid“. Die Band sieht sich vor allem in der Tradition der experimentelleren und heute leider oft vergessenen Bands der Punkrocktage: Pop Group, Slits, Mark Stewart and the Maffia, aber natürlich auch The Clash. Diese Bands waren die interessantesten Blüten der Vorliebe der Punks für Reggae. Auf ihren Platten kamen schwarze und weiße Einflüsse auf der grundlegenden Ebene von Arbeitsweise, Songstruktur und Produktion zusammen, wobei es keineswegs um harmonischen Wohlklang, sondern um revolutionäre Konfrontation ging.
Wenn man nun die historischen Linien zurückverfolgt, die sich am Ende des Jahrtausends im Städtchen Bristol in einem Erzeugnis der Popkultur überkreuzen, dann könnte einem angesichts der Komplexität fast schwindlig werden: Reggae, Punk, HipHop – auf vielfältige Weise erzählt ein ästhetischer „Bastard“ wie Massive Attack eine verschwiegene blutbefleckte Geschichte von Kulturproduktion in den Zeiten der „Globalisierung“. Denn erst durch die Verschleppung von schwarzen Sklaven durch weiße Geschäftsleute wurden Reggae und HipHop letztlich überhaupt möglich. Für ihren Transfer nach Großbritannien bedurfte es der karibischen Migration und der Übertragungskapazitäten der US-amerikanischen Medienindustrie. Schließlich revoltierte in der Metropole selbst die Jugend der weißen Gesellschaft auf symbolischem Terrain (Kleidung, Haare, Musik etc.) gegen Sauberkeit und Ordnung und suchte nach „natürlichen“ Verbündeten bei den marginalisierten Schwarzen. Und gerade weil die Musik von Massive Attack diese ganze Geschichte von ungleicher Vermischung erzählt, verdanken wir ihr eine äußerst zeitgemäße Ästhetik der globalen Kultur.
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