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Marienwunder und warme Süppchen

Wie tröstlich: Das Gesetz der Serie läßt sich brechen. Sara Paretsky hat ihre Dauerheldin V.I. Warshawski suspendiert und sich vom Krimi-Genre emanzipiert. Mit „Geisterland“ legt sie einen zornigen, sozialkritischen Roman vor – und siehe da, das funktioniert  ■ Von Thomas Wörtche

Nach neun Romanen um V.I. Warshawski, die Privatdetektivin aus Chicago, hat Sara Paretsky ihre Erfolgsfigur suspendiert. Ohnehin kein Mensch für Formeln, hing ihr das Gesetz der Serie, das der Markt angeblich verlangt, schon längst zum Halse raus. Und das war auch zu merken. „Geisterland“, das aktuelle Buch, ist eine Art Befreiungsschlag. Ohne Warshawski muß sie nicht die Krimi- Formel von „Fall & Aufklärung“ erfüllen, sondern kann die Romanhandlung frei entwickeln.

Im Mittelpunkt steht eine Gruppe obdachloser Frauen. Die entdecken eine Art „Marienwunder“ an der Wand einer Tiefgarage, die zu einem schicken Hotel auf dem Chicagoer Loop gehört. Den Hotelbetreibern paßt das nicht. Ihre wohlbetuchte Klientel könnte sich von den Frauen „belästigt“ fühlen. Also müssen die weg. Denn, wir kennen das trübe Spiel von New York bis Berlin, „unsere Stadt soll sauber werden“. Zwei Schwestern, brillante Anwältin die eine, Schmuddelkind und Eigenbrötlerin die andere, geraten in das Hauen und Stechen von Reich gegen Arm. Bald fliegt beiden die eigene unappetitliche Familiengeschichte um die Ohren.

Sara Paretsky läßt keinen Zweifel daran, auf welcher Seite des „Klassenkampfes“ sie steht. „Geisterland“ ist kein ausgewogener Roman. Im Gegenteil. Er steckt so voll Zorn und Rage wie eine Handgranate voll Sprengstoff. Da liegt der tiefere Grund, warum „Geisterland“ die Krimi-Form aufgegeben hat. Denn Paretsky verweigert nicht nur die Tröstungen auf der Handlungsebene, sondern auch die der meaning of structure. Am Ende sind nur Teile geklärt. Mara, das Schmuddelkind, ist weiterhin allein, allerdings hat sie eine ganze Menge dazugelernt.

Die Kreuzung zwischen „Familien“- und sozialkritischem Roman ist ein geschickter Schachzug: Paretsky greift die gesellschaftlichen Zustände der USA über die „Familie“ an. Das hat mit der politischen Rhetorik der Clinton-Ära zu tun, die family values und shareholder values nicht zufällig im gleichen Atemzug beschwört. Die shareholder values haben zwar einen wirtschaftlichen Aufschwung geschaffen, strafen aber gleichzeitig jedes indidividuelle, private Verhalten, das sich diesem Wertesystem nicht unterordnet, mit dem Hinausmobben aus der Gesellschaft. Deswegen krümmen sich brave Bürger in Paretskys Roman schon, wenn sie Obdachlose nur sehen. Denn sie wissen sehr wohl, daß sie bei der kleinsten „Fehlfunktion“ genau da landen: im Pappkarton oder im kirchlichen Notasyl, wo sie sich für eine warme Suppe idiotische Predigten anhören müssen. Zum Beispiel über family values. Wie es mit dem Zustand der Familie wirklich bestellt ist, zeigt Paretsky anhand der beiden Schwestern, die bei ihrem reichen, tyrannischen Großvater leben. Terrorisiert durch „eiskalte Barmherzigkeit“, die Wohlverhalten gnadenlos als Dauerpreis einfordert. Denn das ganze Konstrukt „Familie“ ist, wie die Handlung des Romans nahelegt, erstunken und erlogen.

„Eiskalte Barmherzigkeit“ ist auch das Prinzip, das anstelle einer vernünftigen Sozialpolitik herrscht. Wer krank ist und nicht versichert, wird ein bißchen sediert und auf die Straße gesetzt. Wer auf der Straße ist, stört und wird abgeräumt. Von der Polizei zum Beispiel, die im schauderhaften Konzert der Verwaltungen und Institutionen perfekt funktioniert. Wer bei der Kirche Hilfe sucht, findet sich mit krudesten Fundamentalismen belabert. Hysterie ist die Befindlichkeit der Zeit. In einer Schlüsselszene wird eine der obdachlosen Frauen von ordentlichen ChristInnen mit Kerzenleuchtern in der Kirche gelyncht. Ihr größer Fehler war, sexuelle Autonomie auszustrahlen. Und die darf, wie alles Private, nicht sichtbar sein. So ist das Private doch wieder politisch geworden.

In Werbeprospekten feiert sich Chicago als „the city that works“. Paretskys Chicago funktioniert prächtig – für alle, die zu den beiden values beitragen. Aber es arbeitet unbarmherzig effektiv gegen alle, die das nicht tun. Paretsky führt satirisch, giftig, ätzend und manchmal mit groben Axthieben vor, wie die sozialen Rituale der political correctness, der „Feminismus“ der höheren Gattinnen, die institutionalisierte Opposition (Bürgerrechtsbewegungen, die lieber erst mal von cleveren Juristen die medialen Chancen für eine Aktion ausloten lassen, bevor sie eventuell eingreifen) und die nackte, brutale Repression Hand in Hand arbeiten. Trotz aller Multiethnizität entsteht so das Bild einer Gesellschaft auf dem Weg in eine Uniformität, die den amerikanischen Antikommunismus der letzten Dekaden in einem gruslig- ironischen Licht erscheinen läßt.

Nein, ein glatter, stromlinienförmiger Bestseller ist „Geisterland“ nicht. Und das ist gut so. Zeigt das Buch doch eine Schriftstellerin, die sich ihren bösen Blick nicht hat abkaufen lassen. Wer Sara Paretsky kennt, weiß, wie skeptisch sie jedem Betrieb gegenüber ist, der sie nur gut findet, wenn sie brav bei „ihrem Leisten“ bleibt. In den Warshawski-Büchern hatte man diese kämpferische, radikale Paretsky zunehmend vermißt. Den innerlichen Bruch mit der von ihr gegründeten internationalen Vereinigung Sisters in Crime hatte sie längst vollzogen. Die sei in die Hände plappernder Mittelschichttussis im Chanel-Kostüm geraten, hämte sie schon 1990 in einem Interview. Den künstlerischen Bruch mit den Konventionen des Kommerzes hat sie mit „Geisterland“ jetzt öffentlich gemacht. Das macht Freude. Und Mut.

Sara Paretsky: „Geisterland“. Roman. Deutsch von Sonja Hauser. Piper Verlag, München/Zürich 1998, 457 Seiten, 44 DM

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