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■ Eckhard Henscheid, Held mitteljunger Humoristen, kann gut und auch lustig schreiben. In seinem neuen Buch „10:9 für Stroh“ kommen sogar Gustav Seibt und Frank Schirrmacher vor

In den 70er Jahren war Eckhard Henscheid der Jack Kerouac für alkoholinteressierte lesende Menschen. Unvergessen, wenn auch zu Tode zitiert, ist seine Trilogie des laufenden Schwachsinns, die für die 70er Jahre einen ähnlichen Stellenwert hatte wie Rainald Goetz' „Irre“ für die 80er. Während Goetz' erster Roman allerdings den Anfang der 80er markierte, stand die Trilogie eigentlich am Ende von '68. Auch wenn Henscheid im zweiten Band („Geht in Ordnung – sowieso – genau“) durchaus punkkompatible Töne angeschlagen hatte, spürte man im dritten („Die Mätresse des Bischofs“) das Bemühen, große humoristische Literatur im Sinne Walter Boehlichs, Italo Svevos und der russischen Klassiker zu schreiben.

Später verbündete Henscheid sich augenzwinkernd mit den Großen („Roßmann, Roßmann – drei Kafkageschichten“ oder „Wie Max Horkheimer sogar einmal Adorno reinlegte“). Er war Held vieler junger Humoristen (Droste etc.), bei denen er sich auch gern in Leserbriefen bedankte, wenn sie was Nettes über ihn schrieben, und begann dann immer unsouveräner auf die zu schimpfen, die statt seiner und verwandter Geister (Gernhardt) gefeiert wurden. Teilweise wirkte das recht dämlich, wenn etwa in der Titanic immer wieder moniert wurde, daß die großen deutschen Humoristen Gernhardt und Henscheid mit viel weniger Zeilen in diversen Literaturlexika vertreten seien als etwa Böll. Wobei Böll auch nicht ganz unkomisch war: Nachdem Rainald Goetz Anfang der 80er den Nobelpreisträger einen „Präsenilen“ genannt hatte, habe Böll gesagt, er sei nicht präsenil, sondern ganz konkret „senil“, und das solle man bitte veröffentlichen, erzählte jemand kürzlich bei einem Fest des Alexander Fest Verlages, in dem Eckhard Henscheids neues Buch („10:9 für Stroh“) gerade erschienen ist.

Im allgemeinen ist es unfair, Klappentexte in einer Kritik zu zitieren; bei Henscheid, dem Sprachkritiker („Dummdeutsch“), bietet es sich an. Auf dem Umschlag seines neuen Buches heißt es also: „Dank seines umfangreichen ×uvres und seiner vielfältigen Talente als Erzähler, Essayist, Satiriker und Kritiker gilt er seit langem als einer der wichtigsten Autoren der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Tatsächlich ist er eine Art Klassiker der Gegenwart, ein Status, den Henscheid [...] spätestens mit ,Dolce Madonna Bionda‘ von 1988 und dem fünf Jahre später erschienen Roman ,Maria Schnee‘ erreicht hat“. Ganz abgesehen davon, daß Henscheids Großroman „Dolce Madonna Bionda“ doch eher langweilte. Gerade weil alles so prima geschrieben war und im Stile der Russen daherkam. Nur: Während es bei Dostojewski nach 200 oder 300 vorbereitenden Seiten dann doch ordentlich zur Sache geht, passierte bei Henscheid nix mehr, und das Nichts dessen, was geschah, hatte die nihilistische Wut und Kicherlust seiner früheren Bücher längst verloren. Henscheid weiß das vermutlich am besten.

„10:9 für Stroh“ enthält zwei kürzere Texte und eine ausufernde Schlüsselerzählung mit echten Vorbildern aus dem westdeutschen Geistesleben (Gustav Seibt, der mittlerweile bei der Berliner Zeitung ist; Frank Schirrmacher, der FAZ-Herausgeber; Henscheid selbst etc.). Es geht um ein Rigorosum, das Greif (Gustav Seibt) nachmachen muß, damit sein fettleibiger Chef Schummetpeter (Schirrmacher) auch einen seriösen Doktor in den Briefkopf seiner Firma schreiben kann. Die mündliche Prüfung findet auf 137 Seiten in einer runtergekommenen Baden-Badener Reformuniversität statt und wird als sportlicher Wettkampf zwischen dem alerten Greif und seinem Prüfer Stroh beschrieben.

Alles wirkt authentisch und genau beobachtet und lustig, wie da in äußerster Julihitze mit Elias, Dürr, Adorno, Petrarca, Ariès, Burckhard, Schopenhauer, Nietzsche usw. usf. spiegelgefochten wird. Wer selbst mal in irgendwelchen Uni-In-Seminaren war, oder sich für die Welt der FAZ interessiert, kann das sicher vielschmunzelnd genießen.

Die Beobachtungen der Helden sind sehr schön, präzise und durchaus komisch. Gustav Seibt ärgert sich wahnsinnig, daß er nicht mit 0,0, sondern mit 0,17 besteht. Doch nach 50 oder 60 Seiten verliert man das Interesse an der selbstzufriedenen Eitelkeit der Insassen der westdeutschen Bewußtseinsindustrie, und der immergleiche, dezent lebensmüde Manierismus von Henscheids ellenlangen Satzungetümen geht einem auf den Geist. Ab und zu nur noch freut man sich an einigen lustigen Wörtern.

Bei anderen Büchern zitiert man gern ein paar Sätze, um den Autor als Schwachkopf zu entlarven. Bei Henscheid könnte man viele wunderschöne Sätze zitieren, die allesamt belegen, wie gut er immer noch schreiben kann. Gut schreiben kann jeder. Detlef Kuhlbrodt

Eckhard Henscheid: „10:9 für Stroh. Drei Erzählungen“. Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, 196 Seiten, 38 DM

Heute um 19 Uhr liest Henscheid im Literarischen Colloquium Berlin aus „10:9 für Stroh“. (Am Sandwerder 5, S-Bf. Wannsee)