„Die Politiker leben auf Kosten des Problems“

■ Energie-Experte Wladimir Ussatenko zu Finanzhilfen für den Tschernobyl-Reaktor

taz: Die Ukraine fordert von den G7-Staaten Mittel zum Ausbau zweier anderer Atomkraftwerke, um die durch die geplante Schließung des Tschernobyler Reaktors verursachten Verluste wettzumachen.

Wladimir Ussatenko: Das Kraftwerk von Tschernobyl wird schon lange mit Mitteln aus dem Staatshaushalt betrieben. Es ist ein unrentables Unternehmen. Wenn es darum ginge, die finanzielle Belastung des ukrainischen Staates wesentlich zu verringern, dann müßte man es morgen stillegen.

Gäbe es dann nicht Probleme mit der Stromversorgung?

Bei uns stehen die Produktionskapazitäten für Millionen von Kilowattstunden ungenutzt herum. Seit Anfang der 90er Jahre haben wir den Stromverbrauch des Landes von über 300 Milliarden Kilowattstunden auf die Hälfte gedrosselt. Trotzdem werden die Ukrainer pro Kopf immer noch üppiger mit Elektrizität beliefert als die Franzosen. Geht man vom Bruttosozialprodukt aus, so verbrauchen wir pro Dollar zehnmal mehr Energie als Frankreich. Wenn wir unsere Reserven effektiver nutzen würden, könnte unsere Wirtschaft bis zum Jahre 2020 auf der jetzigen Energiebasis munter wachsen.

Wie steht es mit den Zahlungen der Europäischen Bank für Wiederaufbau (EBRD)?

Als der erste mit der Bank ausgehandelte Vertrag 1997 dem Parlament vorgelegt wurde, schoben unsere Deputierten die Ratifizierung auf die lange Bank. Sie waren bitter enttäuscht, weil die Zweckbindung dieser Projekte an die Stillegung des Tschernobyler Kraftwerkes sehr geschickt gesichert ist. Es gab nichts zu klauen.

Die EBRE will den Neubau des Sarkophages – der Betonhülle des 1986 durchgeschmolzenen Reaktorblocks – finanzieren. Ist es überhaupt möglich, herauszufinden, was in diesem Gebilde vorgeht?

Das Kiewer Institut für die Ökologie des Menschen hat eine Methode entwickelt, um mit Hilfe von Feldmessungen die Vorgänge im Sarkophag zu erfassen. Aber sie wird bei uns nie angewandt werden, weil sie zu billig ist. Die Handwerker wissen, wie man das Problem lösen könnte. Die Politiker wissen, wie man auf Kosten des Problems lebt, indem man es nicht löst. Sie wollen noch viele Jahre davon leben.

Daher also die Diskussionen über neue Atomprojekte?

In Tschernobyl arbeiten heute etwa 6.500 Menschen, doppelt so viele wie vor der Katastrophe. Jetzt wird davon geredet, die radioaktiven Abfälle aller Atomkraftwerke unseres Landes dorthin zu schaffen, um sie angeblich zu entkontaminieren. Das Prinzip der Futterkrippe siegt bei uns über das Sicherheitsprinzip. Aber auch die Vertreter westlicher Organisationen wie TACIS und der G7 verhalten sich bei den Kuhhandeln um Tschernobyl unmoralisch. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihre Experten die Argumente unserer Regierung für bare Münze nehmen.

Interview: Barbara Kerneck