: Tierisch
■ Günter Grass im synästhe-tischen Doppelpack: Radie-rungen in der Sparkasse, Lyrik im Goethetheater
Etwa 230 Jahre ist es her, da mühte sich Lessing in seinem – heute würde man sagen – Essay „Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie“, die Möglichkeiten und Schwachstellen der verschiedenen Kunstgattungen zu bestimmen. Kann sich zum Beispiel ein Schreckensschrei in der Literatur über ein paar Zeilen breitmachen, um dann schaurig zu verhallen, gefriert er in der Marmorstatue widernatürlich zu einem Dauerzustand. Es kann also keineswegs jede Gattung jedes Thema in den Griff kriegen.
Günter Grass nutzt diese Unterschiede als Inspirationsquelle und Überbrückungshilfe bei verhakten, stotternden Einfällen. Geht es im einen Medium nicht weiter, wird ins andere übergewechselt. Der Schriftstellerroman „Treffen in Telgte“untersucht die Null-Punkt-Nachkriegs-Sprach-Problematik der Gruppe 47 mittels historischem Personal (von Andreas Gryphius bis Martin Opitz). Eine Art Benjaminscher Tigersprung zwischen den Epochen. Als sich die bildhafte Denkweise des Barock nicht einstellen wollte, half Grass der Malerpinsel. Er entdeckte das Schlüsselemblem der wehrhaften Distel.
Auch die Flut von Eindrücken, die den Autor in Kalkutta niederwälzte, brandete erst einmal ungestüm ins Bild, ehe sie sich mit der alten Olivetti zu grammatikalisch korrekten Sätzen bändigen ließ. Synästhesie als Selbstbefruchtungsmethode. Und manchmal dient eine Zeichnung einfach dazu, das Metapherngewebe eines Romans einer Prüfung zu unterziehen. Was hier funktioniert, muß es auch dort tun, meint Grass offensichtlich, anders als Lessing.
Von derlei komplizierten Wechselspannungen zwischen Bilder- und Wörterströmen erzählt Günter Grass in einer Pressekonferenz mit professioneller Diszipin – und schwelender Langeweile. Druckreif fangen Hirn und Zunge erst zu rattern an, als es ums Politische geht. „Gutes Interview“, nuschelt der ARD-Fernsehjournalist. „Kann ich 1/6tel von gebrauchen. Zumindest beim Ton. Beim Bild vielleicht weniger.“Die Rauchschwaden der Pfeife? Oder Grass' Frosch-im-Absprung-Buckelhaltung?
Jedenfalls spulen sich Grassens Eck-Werte wie von selbst ab: Der heutige Zeitungsjournalismus habe weniger mit Demokratie zu tun als mit Hofberichterstattung. So setzten sich Parolen durch, auch wenn sie noch so aberwitzig sind. Arbeitsplätze ODER saubere Umwelt! Als ob soziales und ökologisches Engagement nicht miteinander vereinbar wären. Asoziales Denken hat längst Einzug gehalten in die Chefetagen.
Eine Firma wie Siemens darf sich mittlerweile öffentlich auf die Schulter klopfen dafür, daß es ihr gelungen ist, jeder Steuerzahlung zu entfleuchen. Trotz hoher Gewinne. Früher haben sie sich vielleicht auch vorm Zahlen gedrückt – aber immerhin schamhaft darüber geschwiegen. Simple Wahrheiten. Sie können nicht oft genug wiederholt werden. Überzeugt leistet der 70Jährige seine Kärrnerarbeit. Immer noch. Und ist es auch gewillt unter Schröder zu tun. „60% Schröder kann ich akzeptieren.“Und das, obwohl Grass bei sich selbst nur 60% akzeptieren kann. Fontanescher Langmut.
Wahrscheinlich ist die Wahl des Ausstellungsorts Teil der Kärrnerarbeit. Jedenfalls kommt in der Schalterhalle der Sparkasse Am Brill der alegorische Mehrwert der animalischen Radierungen Grass wunderbar zum Vorschein. Wer einmal, zusammengestaucht von zu engem Kreditrahmen, in diese heiligen Hallen schlurfte, begreift das identifikatorische Angebot der Ratten-, Butt- und Unkenbilder. Begrüßt wird er von einer sackartig-behäbigen Ratte, die ganz gotterbärmlich vom Golgatha-Kreuz herunterfipst. Die Sonnenblume darunter wirkt geknickt, ist geknickt. Gegenüber duckt sich ein Frosch. Dessen Kollege wurde gerade plattgemacht.
In den Gedichten aus vier Jahrzehnten, die Grass im Theater liest, wechseln solch mehr oder weniger ausgefeilte Symbolgeflechte mit liebenswert-unscheinbaren Alltagsbeobachtungen. Während starke Deckenlampen tiefe Schattenrunen in das Gesicht des Autors fräsen, erzählt seine elastische und junge Stimme von Todessinnereien – und eine Zeile weiter zupackend von den frisch geröteten Kirschen, die endlich gepflückt werden wollen.
Politik fügt sich dem Reim nicht so leicht wie Kirschenpflücken. Wenn es politisch konkret wird, gelingt's oft noch besser als bei All-Gemeinheiten. Die Rede von der „Privatisierung des Montagsblau“ist besser ins leichte Farbenspiel einzupassen als die Klage, daß heute lachen, weinen, sprechen, sterben unerwünscht seien.
1993, unter dem Eindruck von Mölln, drängte es Grass zum ersten Mal seit 1973 zum Gedicht solo. Dazwischen fungierte Lyrik als Roman-Einsprengel. Jetzt also die strenge Form des Sonetts wider das enthemmte Zündeln. Die noch kürzeren, privateren Sinngedichte der „Fundsachen für Nichtleser“dagegen wurden aus den weichen, glibbrigen Konturen von Aquarellen herausgelesen. bk
Bilder von Grass bis 15. Mai in der Sparkasse am Brill
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