: Für neue Zähne nach Mallorca
Europäischer Gerichtshof fordert Dienstleistungsfreiheit für ambulante ärztliche Leistungen. Verbraucher profitieren vor allem beim Zahnersatz ■ Aus Freiburg Christian Rath
Zwei Luxemburger veränderten die europäische Sozialpolitik. Sie provozierten einen Rechtsstreit vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und hatten Erfolg. Künftig können ambulante Arztbesuche auch ohne akuten Notfall im EU-Ausland absolviert werden. Und auch für medizinische Hilfsmittel wie Brillen gilt künftig der freie Warenverkehr. Bisher durften Krankenkassen in fast allen EU-Staaten solche Leistungen nur erstatten, wenn sie im jeweiligen Inland erbracht wurden.
Die Helden des Tages heißen Raymond Kohll und Nicolas Decker. Kohll schickte seine Tochter nach Trier zum Zahnarzt und legte anschließend der Versicherung die Rechnung vor. Die Versicherung weigerte sich aber zu bezahlen, denn die Zahnkorrektur hätte genausogut in Luxemburg erledigt werden können. Im zweiten Fall kaufte Nicolas Decker eine Brille im belgischen Arlons. Wiederum weigerte sich die Versicherung. Denn luxemburgische Brillen seien nicht schlechter.
Der Europäische Gerichtshof hat nun klargestellt, daß in beiden Fällen der EU-Vertrag verletzt wurde. Schon seit Gründung der Gemeinschaften gelten nämlich die Prinzipien des „freien Warenverkehrs“ und des „freien Verkehrs von Dienstleistungen“. VerbraucherInnen sollen sich dort versorgen können, wo sie die beste Leistung zum günstigsten Preis erhalten. Zum ersten Mal hat der Gerichtshof diese Prinzipien nun auf das Sozialversicherungsrecht angewandt und klargestellt, daß die Kassen mit ihrer (teilweise staatlich vorgegebenen) Erstattungspolitik keine Handelshemmnisse aufbauen dürfen.
Bisher konnten im Ausland erhaltene Leistungen nur dann mit der Kasse abgerechnet werden, wenn es sich um eine akute Erkrankung handelte. Wenn im Sommerurlaub die Zahnplombe ausfiel, konnte man sie sich auch in Italien oder Spanien auf Kassenkosten wieder einsetzen lassen. Neu ist nun, daß auch aufschiebbare Leistungen im Ausland möglich sind.
Für VerbraucherInnen sind vor allem drei Konstellationen relevant. Wenn jemand die Versorgung im Nachbarland für besser hält, etwa weil die ÄrztInnen besser ausgebildet oder die Sprechstundenhilfen freundlicher sind, kann er/sie sich dort behandeln lassen. Ist die Behandlung im Ausland nur billiger, interessiert das die KassenkundInnen nur, wenn der Kostenvorteil auch bei ihnen ankommt. Neben dem Brillenkauf dürfte dies vor allem bei Zahnersatz der Fall sein, weil die Kassen seit Jahresbeginn nur noch Festkostenzuschüsse vergeben. Wer eine billige ÄrztIn im EU-Ausland findet, kann künftig mit dem Kassenzuschuß einen größeren Teil der Kosten abdecken. Die AOK setzt sich schon seit vergangenem Jahr für eine derartige Änderung der deutschen Rechtslage ein.
Bedenken müssen die PatientInnen allerdings, daß Fahrt- und Reisekosten den errechneten Kostenvorteil schnell wieder aufzehren können. Deshalb wird sich wohl eine neue Form des Prothesen-Tourismus entwickeln, bei der man gezielt medizinische Leistungen am Urlaubsort wahrnimmt. Die Bedeutung dieser Entwicklung wird in dem Maße ansteigen, wie neben dem Zahnersatz weitere Leistungen aus dem Pflicht-Katalog der Krankenkassen ausgegliedert werden.
Beim Ärzteverband Hartmannbund ist man dennoch nicht nervös. „Unter dem Strich werden die neuen Möglichkeiten nur wenige Patienten nutzen“, erklärt sein Sprecher Peter Orthen-Rahner. Das gestrige EuGH-Urteil gilt nur für ambulante ärztliche Leistungen und medizinische Hilfsmittel. „Krankenhausaufenthalte und Kuren sind von dieser Entscheidung nicht erfaßt“ stellte eine EuGH-Sprecherin gestern klar (Az: Rs C 120/95 und C 158/96).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen