piwik no script img

Rette uns, Leonardo!

Lange hieß es auf See „Rette sich, wer kann“, dann ließen Gentlemen den Frauen den Vortritt. Heute wird auf ausreichend Rettungsmittel vertraut.  ■ Von Barbara Debus

Titanic“, der erfolgreichste Film aller Zeiten, führt es weltweit noch immer Hunderttausenden vor Augen. Kinder und Frauen durften anno 1912 zuerst in die Rettungsboote klettern – zumindest wenn sie erster oder zweiter Klasse reisten.

Doch woher kommt die Auswahlmaxime „Kinder und Frauen zuerst“? Ist sie eine Erfindung britischer Gentlemen oder ein uraltes Überlebensprinzip der Menschheit? Und, was nach dem Titanic- Untergang auf der Leinwand noch brennender interessiert: Wer darf heute zuerst in die Rettungsboote?

Eine schwierige Recherche. Muß doch die Adresse für Seefahrtsgeschichte in Deutschland, das Schiffahrtsmuseum in Bremerhaven, leider passen. „Literatur zu Ihrer Anfrage liegt uns nicht vor“, faxt der wissenschaftliche Dienst, es handele sich eben um ein „ungeschriebenes Gesetz auf See“. Der Bremer Schiffahrtshistoriker Christian Ostersehlte wagt immerhin eine zeitliche Eingrenzung: „Ich kenne holländische Schiffbruchberichte aus dem 17. Jahrhundert. Da galt noch das Prinzip ,Rette sich, wer kann‘. Ich schätze, der Grundsatz ,Frauen und Kinder zuerst‘ stammt aus dem 19. Jahrhundert.“ Denn erstens habe es mit den Auswandererschiffen nach Nordamerika im 19. Jahrhundert zum ersten Mal in der Geschichte einen geregelten Passagiertransport auch von Frauen und Kindern gegeben. Und zweitens sei das 19. Jahrhundert geprägt durch ein „humanitäres Gedankengut“. Das belege etwa die Gründung des Roten Kreuzes 1864 oder der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger 1865.

Ähnlich denkt Kurt Ulrich, Spezialist für Luxusliner. Für ihn stammt die Rücksicht gegenüber „Frauen und Kindern“ aus dem viktorianischen Großbritannien. „In der damaligen britischen Oberschicht hatte der Mann ritterlich zu sein.“ Nicht zu vergessen ein tüchtiger Schuß „Machismo der Seeleute“ gegenüber dem „schwachen Geschlecht“.

Der Kapitän der Republic habe beim Unglück des Dampfers 1908 die Rettung der Frauen und Kinder im übrigen viel konsequenter betrieben als sein Kollege auf der wesentlich berühmteren Titanic, deren Untergang viele Frauen und Kinder in der dritten Klasse nicht überlebten.

Für den Bremer Schiffahrtshistoriker Christian Ostersehlte macht die Parole „Frauen und Kinder zuerst“ durchaus praktischen Sinn: „Bei Evakuierungen von Passagieren schafft man sich doch als erstes die Risikogruppen vom Hals, die am anfälligsten sind für Panik.“

Diesen Standpunkt findet Kapitän Hans-Jürgen Dietrich vom Verband Deutscher Reeder in Hamburg schlicht „blödsinnig“. „Wenn ein Schiff in Seenot gerät oder von einer Havarie bedroht ist, würde ich immer versuchen – gerade um die Panik zu verhindern –, Familien gemeinsam zu retten und nicht auseinanderzureißen.“

Damit sich die Rettungskatastrophe der Titanic nicht wiederholen konnte und die Gentlemen nicht mehr zurückstehen brauchten, wurde 1913 eine internationale, bis heute gültige Konvention unterzeichnet – SOLAS (Safety of Life at Sea). Damit gab es erstmals verbindliche Sicherheitsbestimmungen: So mußte künftig auf allen Schiffen eine ausreichende Anzahl von Rettungsgeräten für alle Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord sein.

Ulrich Weller von der Seeberufsgenossenschaft in Hamburg ist zuständig für die Sicherheit der Schiffe in deutschen Häfen. Er gibt sich optimistisch: „Kinder und Frauen zuerst – so eine Rangfolge gibt es überhaupt nicht mehr. Heutzutage sind doch aufgrund der SOLAS-Konvention ausreichend Rettungsmittel an Bord.“ Auch ein Kapitänskollege von ihm betont: „Ich bin 20 Jahre zur See gefahren, so etwas ist mir nie vorgekommen. Bei mir ist jedes Menschenleben gleich.“ Es gebe heutzutage höchstens noch den Begriff der „hilfebedürftigen Personen“, beispielsweise Rollstuhlfahrer. Diese müßten sich bei Antritt der Reise beim Kapitän melden und würden dann bei einer eventuellen Evakuierung bevorzugt berücksichtigt.

Und bei der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger in Bremen heißt es: „Wir retten unabhängig von Person, Geschlecht und Nationalität.“

Mit dem britischen Empire scheint jegliche Ritterlichkeit gegenüber Frauen auf hoher See untergegangen zu sein. Zumal sich auf den Schiffen die Geschlechterrollen wandeln. Seit den siebziger Jahren belegen zunehmend Frauen Nautikstudiengänge und verpflichten sich als Besatzungsmitglied in ihren Arbeitsverträgen, als letzte von Bord zu gehen. Dann nämlich, wenn auch der letzte männliche Passagier das Schiff verlassen hat. Auch eine nähere Betrachtung der Schiffsunglücke der Nachkriegszeit verheißt nichts Gutes für alle Damen, die auf Ritterlichkeit hoffen:

1956 sank das italienische Passagierschiff Andrea Doria vor New York. Als erste schmissen sich die Matrosen in die Rettungsboote. Die Szenerie veranlaßte einen Chronisten später zu dem Resümee: „Frauen und Kinder zuletzt.“

1971 kam es auf der griechischen Fähre Heleanna im Mittelmeer zu einer Brandkatastrophe. Ausgerechnet der Kapitän kroch als erster an Land.

Auch das letzte große Unglück in der europäischen Seeschiffahrt, der Untergang des Fährschiffs Estonia, ist kein Anwendungsbeispiel des ziemlich aus der Mode gekommenen Slogans „Frauen und Kinder zuerst“. Dafür sank die Fähre zu schnell. Die besten Überlebenschancen hatte, wer sich zufällig auf einem oberen Deck aufhielt und eine Rettungsinsel ergatterte.

Ist die Ära der Kavaliere in Kapitänsuniform also unwiederbringlich dahin? Nicht ganz: Denn wer als Frau auch heutzutage noch Wert legt auf männliche Rücksichtnahme in höchster Seenot, kann sich den Kreuzfahrtschiffen der schleswig- holsteinischen Reederei Peter Deilmann anvertrauen.

Die Deilmann-Schiffsführer beherzigen noch immer den Rettungsruf „Frauen und Kinder zuerst“. Dies ergab eine Umfrage des Touristikchefs Hans-Joachim Birkholz unter den dortigen Kapitänen. Birkholz war selbst über das Ergebnis seiner Befragung überrascht: „Das ist ein Reflex der alten kavaliersmäßigen Ritterlichkeit. So wie man Damen in den Mantel hilft – ob sie wollen oder nicht.“

Birkholz weist jedoch darauf hin, daß auch ein Deilmann-Kapitän an seine Passagiere „nur appellieren“ kann, denn kein Kapitän darf in Krisensituationen Polizeigewalt gegenüber den Passagieren ausüben. So könnten sich nicht nur die männlichen Mitfahrer, sondern theoretisch sogar die Besatzungsmitglieder auf Deilmann-Kreuzfahrtschiffen rücksichtslos als erste in die Rettungsboote drängeln – der „übergesetzliche Notstand“ erlaube es.

Wem folglich auch der Geheimtip „Deilmann-Kapitäne“ zu viele Unwägbarkeiten birgt, sollte tatsächlich nur mit Leonardo DiCaprio höchstpersönlich an Bord gehen. Hat er nicht selbstlos seiner Filmgeliebten eine umhertreibende Schiffstüre als Rettungsfloß überlassen? Und sich dem Tod durch Erfrieren hingegeben – ohne zu murren und in voller Schönheit?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen