: Frauenbeauftragte
Was ist die Frau an sich? Mutter oder Tochter? Kurtisane oder Kumpel? Trotz Freud und Selbsthilfegruppen – alles scheint verwirrend. Dabei ist's einfach: Nur Tanten gibt es, in zwei Archetypen: Tante Hanna und Tante Elfriede ■ Von Michael Rutschky
Am Anfang war, ist und bleibt Mutter. Aber wenn du Mutters Naturreich verläßt, um in Geschichte und Gesellschaft einzutreten, triffst du als erste Tante Elfriede. Unverheiratet und ohne Kinder, gewiß auch ungeschminkt, keine lackierten Finger-, erst recht keine solchen Fußnägel, Nichtraucherin. Ebenso fehlen Dauerwelle und Haartönung, sogar ein nennenswerter Haarschnitt: Tante Elfriede schlingt sich das Haar zum Knoten, Dutt, eine „Halleluja-Zwiebel“, wie meine Freundin Hannelore das zu nennen pflegt.
Weil du vom Naturreich noch halb umfangen bist, kannst du natürlich nicht wissen, daß Tante Elfriede sich nach den Vorgaben der Lebensreformer um 1900 stilisiert: „Sie trägt Holzperlen im Haar und ist ein wertvoller Mensch“, pflegte Mutter zu spotten.
Sie regiert die Welt. Und sie regiert sie unendlich viel kühler als Mutter. Hier gibt es keine Küsse, aber viel Ordnung, die du immer wieder durchbrichst, meist unabsichtlich, weil sie dir noch unbekannt ist. Diese Ordnung darzulegen und durchzusetzen, ist Tante Elfriedes ganze, kalte Leidenschaft.
Dabei verfährt sie weniger tyrannisch als pedantisch. Nie wird ihre Stimme laut, höchstens scharf. Stets gibt es gute Gründe, etwa warum du Hannelore an der Hand halten sollst beim Spazierengehen und nicht plötzlich aus der Reihe brechen darfst, um am Wegrand einen Faden Silberpapier aufzulesen, den außer dir niemand sieht.
Gemeinschaft erfordert Ordnung, erklärt Tante Elfriede fest. Als in den späten Siebzigern unter unsresgleichen die Vernunftkritik in Mode kam, mußte ich oft an Tante Elfriede denken, als Allegorie der Vernunft, die im Namen von Freiheit und heißer Leidenschaft zu dekonstruieren sei.
K. meint, Tante Elfriede, die Kindergärtnerin aus den späten Vierzigern, habe die Frauenbeauftragte der Gegenwart präfiguriert. Tante Elfriedes Verbot, nach Belieben Hannelore abzuküssen, sei praktisch die erste Kampagne gegen sexuelle Belästigung – aber da mische ich mich nicht ein.
Festzuhalten ist an meiner Tante Elfriede, daß in ihrer Kinderlosigkeit und Singleexistenz die Geschichte sich unmittelbar widerspiegelte. Keine Möglichkeit, ideologisch als Emanzipation zu überhöhen, daß Tante Elfriede ihren Lebensunterhalt selbst verdienen mußte. Sie teilte das Schicksal von Fräulein Drescher (Blockflöte), Fräulein Erdmann (Englisch), Frau Dr. Stumpf (Deutsch), Frau Dr. Kahn (die bei dir die Nierenentzündung diagnostizierte).
Das Schicksal hieß: Unmassen toter junger Männer, die damit als Liebste, Ehemänner, Kindsväter ausfielen. Der Krieg war ja gerade erst um die Ecke. Dies massenhafte Fehlen von Männern kann man sich gar nicht dramatisch genug vorstellen; zumal es ja ganz unauffällig blieb.
Die Geschichte prägte Tante Elfriedes Vernunft, Pedanterie, Ordnungsinn, Regierungsstil und hat für dein Leben wie dasjenige Hannelores, insgesamt der Bundesrepublik, weitreichende Folgen. Wie gesagt, K. macht Tante Elfriede für eine ganze Fraktion der neuen Frauenbewegung verantwortlich.
Dagegen Tante Hanna. Im deutlichsten Unterschied zu Tante Elfriede schminkt sie sich (unauffällig), lackiert die Nägel und kleidet sich höchst elegant. Allenfalls gibt es bei Tante Hanna das Gewichtsproblem, daß sie wie so viele andere aufgrund der Freßwelle in den Fünfzigern ereilte (auch Onkel Henner natürlich).
Muß man Tante Elfriede eher lichtschluckend nennen, so leuchtet, glitzert Tante Hanna. Unvergeßlich der Abend in dem Heilbronner Hotel – Skiferien mit Onkel Henner und Tante Hanna in Reit im Winkl –, als Tante Hanna dich, du warst 16, in fast alle Geheimnisse ihrer Ehe einweihte. Fast alle. Wie unglücklich Onkel Henner, dieser Rumtreiber und sexuelle Nimmersatt, sie seit langen Jahren mache.
Erst nach langen Jahren wurde mir klar, daß Tante Hanna, ohne es richtig zu wissen und klar zu wollen, den 16jährigen, der aufgeregt eine Sinalco nach der anderen nuckelte und sich nachher in der Einsamkeit des Hotelzimmers gleich mehrere hintereinander von der Palme wedeln würde (dabei freilich keinen Gedanken an Tante Hanna, sondern alle auf eine gewisse Senta verschwendend) – Tante Hanna, Mitte 40, traktierte den 16jährigen mit einem properen, kleinen Verführungsversuch. Tante Elfriede wäre die sexuelle Belästigung sofort aufgefallen.
Tanta Hanna war Rita Hayworth, war Ava Gardner, war Kim Novak, war Elizabeth Taylor. Dabei beschränkte sie sich keineswegs auf ihre Selbstinszenierung als Sexbombe. Sie las literarische Neuerscheinungen, diskutierte 1954 innig mit Mutter die Eheprobleme in Max Frischs neuem Roman „Stiller“, besuchte das Theater, das Konzert und die Gemäldegalerie, wo sie mit Vorliebe Porträts junger Frauen daraufhin studierte, ob sie „wissend“ seien. In späterem Alter entwickelte Tante Hanna großes Interesse für die Psychologie C. G. Jungs, in die sie sich auch ordentlich einarbeitete – da aber hatte Onkel Henner sie bereits verlassen zugunsten einer keineswegs jüngeren oder attraktiveren, dafür aber weit weniger überheizten Person, die mit ihrer No-Nonsense-Attitüde eher Tante Elfriede glich.
K. wüßte auch aus dem Archetypus Tante Hanna eine Fraktion der neuen Frauenbewegung herzuleiten. Diese beschäftige sich angelegentlich damit, Freuds berühmter Frage „Was will das Weib?“ auszuweichen. Ja diese Fraktion habe auf Freuds Frage geradezu die Antwort erfunden: „Das Weib will diese Frage um keinen Preis beantworten.“
Denn daß sie den Kopf voll Sex hatte und dich schon als Jüngling damit traktierte, das hätte die schöne Tante Hanna, in die du als Kind so verliebt warst, stets vehement bestritten: Onkel Henner war doch der Nimmersatt, dem jeder Weiberrock auf Anhieb zu Stielaugen verhalf. Diese langen Nachmittage, an denen Tante Hanna dir als Kind über prachtvollen Eisbechern, dann als Jüngling in endlos-innigen Grübeleien Auskünfte über die seinsmäßigen Unterschiede zwischen Männern und Frauen gab. „Ganz Frau“ zu sein, wie es Tante Hanna vorschwebte, das antizipierte in gewisser Weise noch einmal die intellektuelle Mode der späten Siebziger, frühen Achtziger, den Dekonstruktivismus.
Und mit Tante Elfriede und Tante Hanna als Archetypen, magst du einwenden, soll die ganze Bundesrepublik frauenmäßig abgedeckt sein?
Ja, kann ich da nur antworten, schau dich doch um. Selbstverständlich muß man Mischungsverhältnisse ansetzen. Dann wird deutlich, daß beispielsweise Rita Süssmuth zu großen Anteilen aus Tante Elfriede besteht – aber erst ein gewisses Quentchen Tante Hanna macht sie komplett. Und Claudia Nolte ist überwiegend Tante Hanna, keine Frage – aber ohne die Prise Tante Elfriede fehlt wieder was. Oder willst du Claudia Nolte lieber als hundert Prozent Tante Elfriede erkennen, die Kindergärtnerin mit dem Sinn für Vernunft, der sie mit Vorliebe die Buben unterwirft? Wie ich hier überhaupt zu einem großen Suchspiel einladen möchte: Wo ist Tante Elfriede, wo Tante Hanna? Jutta Ditfurth? Dagmar Berghoff? Ilona Christen?
Aber was ist mit K. oder dieser Senta da in dem Heilbronner Hotel, magst du einwenden.
Das sind Liebesdinge, müßte ich antworten, die haben hier keinen Platz. Die finden woanders statt. Hier geht es um Pathosformeln, Archetypen, Ikonographie. Deutschland, bleiche Mutter, Mädchen in Uniform. Und da kann ich eben nur mit Tante Elfriede und Tante Hanna dienen.
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