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530.000 Bücher ziehen ab heute um

Die fusionierte Stadtbibliothek in Mitte und die Amerika-Gedenkbibliothek in Kreuzberg vereinigen ab heute auch ihre Buchbestände. Kein doppelter Ankauf mehr, sondern Aufteilung nach Fachgebieten  ■ Von Ralph Bollmann

Es ist nur ein kleiner Schnitt für Gabriele Beger, aber ein großer Einschnitt für ihre Bibliothek. Heute um 11 Uhr wird die Umzugsbeauftragte der Stiftung Zentral- und Landesbibliothek das rotweiße Baustellenband durchtrennen, das die Regale des Freihandbereichs für Naturwissenschaften und Technik in der Stadtbibliothek noch umgibt. Damit ist die erste Etappe eines Büchertransfers abgeschlossen, der die 1,3 Millionen Bände der Berliner Stadtbibliothek mit den 900.000 Bänden der Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) zu einer einzigen Bücherei verschmelzen läßt.

Die beiden Häuser in Kreuzberg und Mitte bleiben zwar weiter in Betrieb. Doch kaufen die Bibliothekare künftig jedes Buch nur noch einmal. Sie haben die Bestände deshalb nach Themengruppen aufgeteilt. Wer sich für Kunst und Literatur, Geistes- und Sozialwissenschaften oder die Kinder- und Jugendbibliothek interessiert, kann weiterhin zum Halleschen Tor fahren. Benutzer mit mathematisch-naturwissenschaftlichen, technischen, juristischen oder ökonomischen Interessen müssen sich dagegen in die Breite Straße bequemen. Den Weg dorthin fand bisher nur einer von sieben Bücherfreunden. Jetzt hoffen die Bibliothekare, daß das Gedränge an der überlasteten Kreuzberger Ausleihe abnimmt.

„Die AGB ist keine Bezirksbibliothek für Kreuzberg“, weist Stiftungssprecherin Sabine Walz die Kritik aus dem Bezirk zurück. Angesichts steigender Buchpreise und eines knappen Etats könne nur der Verzicht auf Doppelexemplare „eine größtmögliche Breite und Tiefe“ bei den Ankäufen sichern. Es sei allemal sinnvoller, die Bücher nach Themenbereichen aufzuteilen als nach dem Erscheinungsjahr, wie es die Staatsbibliothek plant. Zumal der Umzug von Mathematikern und Naturwissenschaftlern der Humboldt-Universität nach Adlershof eine Lücke in Mitte hinterlasse, die die Stadtbibliothek jetzt ausfülle.

In die Rolle einer Lückenbüßerin schlüpft die Stiftung aber noch aus einem anderen Grund. Staats- und Universitätsbibliotheken versuchen immer mehr, Nichtwissenschaftler aus ihren heiligen Hallen zu vertreiben. Auf der anderen Seite verschlechtert die Finanznot der Bezirke das Angebot der Stadtbüchereien. Immer mehr Benutzer werden also in die benutzerfreundliche Zentral- und Landesbibliothek flüchten. Schon jetzt ist sie die meistbenutzte Kultureinrichtung der Stadt.

Das verdankt sie nicht zuletzt ihrer in Deutschland einzigartigen Zwitterrolle als „öffentliche wissenschaftliche Bibliothek“, die Funktionen beider Typen von Büchereien vereint. Dieses Konzept geht noch auf die Amerikaner zurück, die 1954 die Gedenkbibliothek nach dem Vorbild der amerikanischen „Public Libraries“ gründeten, als Gegenstück zur 1901 gegründeten Stadtbibliothek im Ostsektor.

Bis heute kaufen die Bibliothekare zwar keine ausgesprochenen Spezialtitel, aber anders als gewöhnliche Stadtbüchereien wissenschaftliche Literatur bis zum Niveau des Grundstudiums. Rund die Hälfte der jährlichen Neuerwerbungen machen die Pflichtexemplare aller in Berlin erscheinenden Bücher und Zeitschriften aus, die die Bibliothek seit drei Jahren sammelt. Damals beschloß das Abgeordnetenhaus die Fusion von Gedenk- und Stadtbibliothek.

Erst der Umzug jedoch bringt die Bestände zueinander. Bis Oktober noch wird eine Dortmunder Spezialfirma für Bibliotheksumzüge 530.000 Bände zwischen beiden Häusern hin- und herfahren. Rücken an Rücken ließen sie sich zu einer gut 15 Kilometer langen Bücherreihe aneinanderstellen, die vom Ostkreuz bis zum Olympiastadion reichte. Kompakt zusammengedrängt, paßt die Büchermasse von rund 170 Tonnen jedoch in 30 Container. Bis Ende August sollen die Freihandbereiche, auf ein knappes Fünftel der Gesamtbestände angewachsen, umgezogen sein. Die Magazinbestände folgen im Oktober.

Doch die Umzugs-Managerin Beger weiß, daß sie nur ein neues Provisorium schafft. Langfristig sähe sie die Bibliothek am liebsten unter einem Dach vereint. Für einen etwaigen Neubau auf dem Schloßplatz hat die Stiftung vorsorglich ihr Interesse bekundet. Dort wünscht sich Beger „ein Berliner Centre Pompidou“. Im Moment wäre sie freilich schon zufrieden, wenn sie den vorderen Teil des Marstalls wieder beanspruchen könnte. Dort mußten zu DDR-Zeiten die Bücher weichen, um der Verwaltung des Palasts der Republik zu weichen. Bei Nacht und Nebel schafften Soldaten der Volksarmee die Bücher in eine Scheune außerhalb der Berliner Stadtgrenze.

Der gescheiterten Olympia-Bewerbung hat es die Bibliothek immerhin zu verdanken, daß sie in den letzten Jahren ein klein wenig expandieren konnte. Olympia- Chef Axel Nawrocki hatte für die Renovierung seiner noblen Räume im Ribbeck-Haus so viel Geld losgeeist, wie es eine Bibliothek vermutlich nie bekommen hätte. Das Bären-Logo an einem Lesesaalfenster erinnert noch daran.

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