Selbsthilfegruppe zur Schizophrenie der Geschichte

■ Wie Aktivisten der Aktion Sühnezeichen damit klarkommen, nach dem Ende der DDR eine zentrale Frage der Linken lösen zu müssen: Darf man NS- und SED-Unrecht vergleichen?

Berlin (taz) – Wahrscheinlich hätten nur die wenigsten der etwa 30 Leute, die hier zusammensitzen, etwas dagegen, wenn man sie als Linke bezeichnet. Es ist Samstag, die Sonne scheint, und sie haben auf dem Rasen einen Kreis aus Bierbänken gebildet. Trotzdem ist die Stimmung gedämpft. Wer immer sich zu Wort meldet, spricht eigentümlich behutsam, in den Formulierungen wie im Körperausdruck. Ein Hauch von Selbsthilfegruppe liegt über dem Garten einer Berliner Kirche, doch nicht Alkoholismus oder Drogensucht hat die Teilnehmer zusammengebracht. Die Gruppe leidet an der deutschen Vergangenheit.

Ein Wort ist es im besonderen, das den Teilnehmern spürbar Bauchschmerzen bereitet: „SED- Unrecht“. Die „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ feierte am vergangenen Wochenende mit einer Tagung ihr 40jähriges Bestehen – und stellte in einem Workshop die Frage, ob man sich in Zukunft nicht nur mit NS-, sondern auch mit SED-Unrecht beschäftigen müsse. Eine Provokation sei das, hatte ein junger Mann sich bereits entrüstet, noch ehe sich die Gruppe überhaupt im Kirchgarten zusammengefunden hatte. Während Sühnezeichen die Frage nach dem angemessenen Umgang mit NS- und SED-Unrecht auf die eigene Versöhnungsarbeit bezog, reicht die Auseinandersetzung weit über die Backsteinmauern hinaus, die den Garten umschließen. Im Laufe der Debatte begreift man, warum der Umgang mit der DDR bis heute für viele Linke ein schwieriges Thema ist.

Entstanden aus der Einsicht in die Mitschuld am Nationalsozialismus, widmet sich Sühnezeichen mit 150 Freiwilligen unter anderem der Arbeit in deutschen und ausländischen KZ-Gedenkstätten. Gerade dort ist die doppelte Vergangenheit präsent. „Ich kann doch nicht zu einem früheren Häftling sagen: Es freut mich, daß Sie das KZ überlebt haben, aber was mit Ihnen nach 1945 unter den Sowjets passiert ist, interessiert mich nicht.“ So beschreibt eine Freiwillige das Dilemma.

Doch schon bei der Suche nach den richtigen Worten für die Verbrechen der Nachkriegsära setze Verunsicherung ein, beobachtet Uta Gerlant, die in Rußland als Freiwillige bei einer Organisation für Opfer des Stalinismus arbeitete. Wieso von SED-Unrecht sprechen, wenn niemand NSDAP- Unrecht sage, fragt sie. „Wenn man es aber kommunistisches Unrecht nennt, fürchtet man zu Recht, allen Kommunisten nahezutreten.“ Während Gerlant in der Verunsicherung die Chance zu einem differenzierteren Geschichtsbild sieht, bemängelt eine junge Frau, die Konservativen seien längst in die Definitionslücke vorgestoßen: „Das Thema ist von der Rechten besetzt.“ In der Folge mache sich zunehmend politischer Druck breit, meint die Historikerin Annette Leo: „NS-Verbrechen dürfen, so scheint es, nur noch erwähnt werden, wenn man im selben Atemzug von SED-Unrecht spricht.“ Beide Geschichten gleichermaßen zu sehen, aber nicht gleichzusetzen, sei wohl der einzige Weg.

Der Grund für den zögerlichen Umgang mit dem Unrecht aus DDR-Zeiten sei vor allem in der Geschichte der Linken in der Bundesrepublik zu finden, wendet ein junger Mann ein, der in Polen Holocaust-Opfer betreut hat: „Einige Wessis haben Angst, sich an der eigenen Vergangenheit zu verletzen.“ Während die DDR-Sektion von Sühnezeichen eher der damaligen Oppositionsbewegung nahestand, hätten die Partner im Westen die DDR-Staatsführung zum Teil durchaus wohlwollend gesehen. Dieter Nowak, der in den 70er Jahren hauptamtlich für die Sektion in der Bundesrepublik arbeitete, pflichtet bei: „Für die von uns, die im Westen an den Realsozialismus glaubten, gilt es, eigene Schuld zu bekennen.“

Von den Verkrampfungen der West-Linken völlig unberührt blieb nur eine junge Frau aus dem Osten: „Daß ist doch ein ungeheurer Schatz, daß uns mit der DDR der Totalitarismus noch so nahe ist – wo sollten wir sonst lernen, wie Mitläufertum funktioniert?“ Patrik Schwarz