: Die Rückkehr des Vaters als Riese und Held
■ Von den Schwierigkeiten, über Kuba die Wahrheit zu sagen: Die Retrospektive des 13. Internationalen Dokumentarfilmfestivals in München galt dem kubanischen Dokumentarfilm
Wer zu spät zu einem Filmfestival kommt, den bestraft das Kino üblicherweise mit der Gewißheit, den Film der Filme verpaßt zu haben. Nicht so das 13. Internationalen Dokumentarfilmfestival München, dessen Leiterin Gudrun Geyer mit ihrem unermüdlich auch am 1. Mai arbeitenden Team ein Programm erstellte, das an allen elf Festivaltagen Entdeckungen aus aller Welt im Überfluß bot. Allein 67 Beispiele kubanischen Dokumentarfilmschaffens, die zum größten Teil dem Fundus des 1959 gegründeten ICAIC (Instituto Cubano de Art e Industria) entliehen wurden, erschlossen rückblickend die Schwierigkeit, über Kuba die Wahrheit zu sagen. Galt es doch, den Verfallsprozeß zu dokumentieren, dem der Idealismus der kubanischen Freiheitskämpfer unter Führung des jungen Rechtsanwalts Fidel Castro ausgesetzt war: so lange, bis der 1953 einsetzende Aufstand gegen das Regime Batistas 1958/59 in die Halbwahrheit der revolutionären Erziehung der Massen und wenig später in die anhaltende Lüge der Castro- Diktatur umschlug.
Wie groß der Schmerz sein mußte, den die Korrumpierung der revolutionären Integrität in Fidels Glaubensgenossen auslöste, zeigt der Fall des Radiojournalisten Ricardo, der sich Fidel in der Sierra Maestra anschloß, als seine Tochter Miriam kaum zwei Jahre alt war. Als Mitbegründer von Radio Rebelde ist sich Ricardo fünfzig Jahre später sicher: „Wir haben die Wahrheit gesagt.“ Ricardos Tochter Miriam hört Radio Marti, ein aus Amerika dazwischenfunkendes Kontrastprogramm zur Propaganda fidel gestimmter Revolutionäre. Miriam erinnert sich an die Rückkehr eines gefeierten Untergrundkämpfers, den sie als Vater nicht wiedererkannte: „Für mich war er etwas Unglaubliches, ein Riese.“ Die Gegenüberstellung solcher Aussagen erübrigt in Christian Freis geduldig auf Zwischentöne lauschendem Film „Ricardo, Miriam y Fidel“ jede Stellungnahme zum Scheitern des kubanischen Experiments. Mit der Zeit lernt die Tochter, daß der Riese über die Niederungen der Mangelwirtschaft einfach hinwegsieht. Als Lehrerin des kleinen Volks, dem sie die Errungenschaften Fidels einbleuen soll, während jeder Einkauf („dieses Bezugsheft gilt hier nicht mehr“) die Unzufriedenheit der Menschen zutage bringt, sieht sich die Mutter eines erwachsenen Sohnes überfordert. Ihr Ausreisegesuch wird prompt bearbeitet. Der Schweizer Filmemacher Frei wird Miriams Familie ins Exil Miami begleiten, ihre Trauer, ihre Hoffnung mit derselben Offenheit würdigen wie die Enttäuschung ihres Vaters, der an seinen Idealen hängt wie ein Unfallopfer am Tropf.
Die russischstämmige Julia Loktev, US-amerikanische Regisseurin des bereits in Sundance preisgekrönten Debüts „Moment of Impact“, dem eine internationale Jury auch in München den mit 20.000 Mark dotierten Dokumentarfilmpreis des Bayerischen Rundfunks zuerkannte, kann ihren Vater jederzeit besuchen. Aber Leonid Loktev, der seit einem Autounfall so erreichbar ist, wie es ein zynisches Schicksal für einen beinah zur Gänze gelähmten Menschen nur vorsehen kann, lebt hinter der Mauer einer unzugänglichen Gedankenwelt. Seine Augen sind nicht länger Fenster zur Seele. Seine Frau Larissa hat ihre Arbeit als Computerprogrammiererin aufgegeben, um ihn zu pflegen, seine Tochter sucht den Geist ihres verschwundenen Vaters mit der Kamera einzufangen: „Moments of Impact“ gräbt in ebenso quälenden wie bestürzend ehrlichen Mutter-Tochter-Dialogen jedes Gefühl hervor, das jemand haben kann, dessen Leben mit der zur ewigen Wiederholung verdammten Betreuung eines Menschen vergeht, den niemand mehr kennen kann. „Wir wissen nicht, wer er ist“, sagen die beiden, „noch wie es ihm geht. Len ist Len, es gibt keinen Vergleich.“ Nur diesen Film, in dem Mutter und Tochter versuchen, sich jenseits von Aufopferung oder Gleichgültigkeit ins Gesicht zu sehen – und den Mann zwischen Leben und Tod in den Augen der anderen wiederzuerkennen. Heike Kühn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen