: Alles eine Frage des Geschmacks
Ist Guildo Horn ein erfolgreicher Sänger? Vielleicht ein Star? Oder etwa eine Ikone des schlechten Geschmacks? Nicht alles, was In ist, ist auch gleich Kult. Warum der Schlager trendy ist. Überlegungen ■ Von Jan Feddersen
Kürzlich pries der Fischer Verlag in einer Annonce ein Buch, das nichts als die Glossen eines Kolumnisten der Zeit enthielt. Die kleinen Artikel hatten im Laufe der Monate viele Anhänger finden können. Für die gesammelten Artikel in Buchform warb das Frankfurter Verlagshaus mit einem Wort: „Kultig“. Eine Düsseldorfer Gastwirtschaft buhlte um neue Kunden mit einem Handzettel. Auf ihm stand überraschend zu lesen: „Bei uns ist der Kult zuhaus“. Als vor zwei Jahren die letzten DDR-Ampeln durch solche aus dem Westen ausgewechselt werden sollten, protestierte die halbe Ostzone.
Der Grund: Die modernen Verkehrsregler zeigten die schlankeren Figuren aus dem Westen, nicht mehr die DDR-Männchen auf grünem oder rotem Grund, die „kultig“ seien. Auch der Popsänger Guildo Horn mobilisierte seine Anhänger unter der Überschrift: „Deutscher Schlager – Kult“.
Inzwischen wirbt jede mittlere Werbeagentur für ihre Produkte mit dem Hinweis auf deren besonderen Charakter. Kult verspricht, wahrgenommen zu werden. Nicht bei denen, die eine bestimmte Ware schon kannten, aber bei den Konsumenten, die selbst gerne zum erlesenen Kreis der bisherigen Nutzer gehören möchten. Man möchte von der Ausstrahlung eines Produkts profitieren. Und zwar egal, ob es nun um Mineralwasser, eine Nudelsorte oder Turnschuhe geht.
Insofern können Guildo Horn und seine Band, die Orthopädischen Strümpfe, kein Kult mehr sein. Vor drei Jahren, als der Trierer nur wenigen bekannt war und noch nicht jedes Osterholz- Scharmbecker Schulkind seine Nußeckenrezepte auswendig hersagen konnte, war der in der Tat begnadete Entertainer Kult. Und der speiste sich daraus, daß seine Fans wußten, ihr Held werde vom Mainstream ignoriert, verschmäht, ausgegrenzt und mißachtet.
Kult lebt vom Glauben an die Ungerechtigkeit der Welt, von der Vorstellung, daß andere einen unverdienten Aufstieg geschafft haben. Menschen, die einen Kult betreiben, können sich mit ihrem Objekt der Anbetung identifizieren: Haben wir nicht auch solche Figurprobleme wie Guildo? – Gewiß, und der Meister zeigt, daß man sich für einen Körper ohne Waschbrettprofil nicht schämen muß. Und fürchten wir nicht auch, so jenseits der 33, um die letzten Haare auf dem Kopf, um Schönheit, Kraft und Virilität? – Ja, aber ER beweist uns, daß es ein Leben auch jenseits von Fitneßstudios gibt. Und: Man glaubt ihm. Punkt.
Justus Frantz, der Gotthilf Fischer der klassischen Musik, kann nie Kult werden, höchstens Objekt lauen Spotts. Der Mann wirkt so saturiert, so selbstgewiß, daß eine glühende Verehrung nicht in Frage kommt: Er braucht uns, die wir allen Gestrauchelten gerne helfen, einfach nicht. Dabei bringt der Erfinder des Schleswig-Holstein-Musik-Festivals alle Voraussetzungen mit, um Kult zu werden. Er ist kein begnadeter Pianist. Haspelt sich durch die Partituren, daß es nur so klappert. Aber er hat noch nie verloren, weder einen Selbstmordversuch hinter sich noch sonstige Kerben im Lebenslauf. Alles und immer im grünen Bereich sozusagen, ein risikoloser Mann, der sich nie aus dem Fenster hinausgelehnt hat. Zudem wirkt er stets weniger charmant als vielmehr ölig: So einer will uns für blöd verkaufen.
Auch die kanadische Sängerin Céline Dion ist das Gegenteil von Kult. Zwar siegte sie 1988 beim Grand Prix d'Eurovision und avancierte zwei Jahre darauf bis heute zur bestbezahlten Sängerin der Welt, aber ihre Vita liest sich so aufregend wie ein Rezept für die erfolgreiche Zubereitung von Salzkartoffeln. Ist verheiratet. Wurde noch nie wie Lady Di oder Verona Feldbusch von Paparazzi verfolgt. Sagt in Interviews nette Dinge über die Kinder der Welt. Macht bei jeder sich bietenden Benefizgelegenheit mit, ob für die Unicef, die Kinder-Aidshilfe oder gegen die Zerstörung des Regenwalds. Launen würde sie sich nie verzeihen und behält sie deshalb für sich.
Allen wohl und niemand weh: Das wird bei ihr nie was mit dem Kult. Anbetungswürdig sind Objekte nur, wenn sie mindestens von einem Hauch Tragik umweht sind. Edith Piaf, die französische Sängerin beispielsweise, war so ein Fall. Noch heute pilgern Fans zum Pariser Friedhof Père Lachaise, um Blumen auf das Grab der Frau zu legen, die vor ihrer Bühnenkarriere als Prostituierte arbeitete.
Ché Guevara war Kult und Kitsch zugleich. War. Nun gilt er nur noch als gescheiterter Politiker. Daß er nicht mehr kultfähig ist, liegt wohl auch daran, daß er nicht gerade als ein Mann mit Neigung zu Selbstironie erinnert wird. Das kommt nicht mehr an. Knarziges Heldentum ist aus der Mode, aber das kann sich ändern.
Anders bei einer schwedischen Popband. Von Abba wird behauptet, ihre Musik habe in den siebziger Jahren zum liebsten gehört, was damalige Teenager so hörten. Das ist eine glatte Lüge: Zu den Schöpfern zeitlos-schöner Titel wie „Chiquitita“, „Fernando“ oder „Dancing Queen“ mochte sich niemand offen bekennen. Sie galten modisch als indiskutabel, hatten so gar nichts Politisches an sich und waren verrufen als absolut drogenabstinent. Die netten vier standen für nichts als – Spaß. Und diese Mentalität stand damals – Deutscher Herbst! – ebenso in Verruf wie Heiterkeit überhaupt.
Unerklärlich blieb so der Erfolg der Gruppe. Allein in Deutschland (BRD und DDR) wurden bislang dreißig Millionen Tonträger mit der Musik des Quartetts verkauft. Der Grund dieses Mißverhältnisses in der öffentlichen Wahrnehmung liegt darin, daß Abba gehört, gekauft und geliebt wurde – aber eben von Menschen, die gewöhnlich dem Hochkulturbetrieb fern bleiben, solche, die das „Phantom der Oper“ für Oper halten und John Grishams Kolportageromane als Literatur nehmen.
Daß Abbas Musik, ihr Styling, ihre Bühnenbewegungen zum Kult avancierten, lag an postmoderner Entspannung: Die kulturellen Segmente wurden derart enthierarchiert, daß es plötzlich nicht mehr peinlich für gebildete Kinder war, sich an Parties zu erinnern, auf denen die Bay City Rollers, Penny McLean (“Lady Bump“) und eben Abba gespielt wurden.
Diese versöhnliche Erinnerung an Kindertage, als man noch nicht wußte, was sich geschmacklich schickt und was nicht, trug dazu bei, Kultur generell nicht mehr so ernst zu nehmen als System von Weihen, notfalls also auch einen Besuch bei den Bayreuther Festspielen als Unterhaltungsofferte zu begreifen – und nicht als Eintritt in die bessere Gesellschaft. Überall kann Ballermann 6 sein. Ob auf Mallorca oder dem berühmtem Hügel: nichts als ein Treffpunkt.
Die wachsende Gleichwertigkeit der Kultur- und Unterhaltungsangebote entspricht einer Gesellschaft, deren Kommunikationen nicht mehr entlang von Klassenlinien verlaufen, sondern in Milieus stattfinden. Ausgefochten wird so ein (ewiger) Kampf um Differenzierung, um Exklusivität – also Individualität schlechthin.
Jeder Zirkel ist bemüht, für seine Obsessionen Anhänger zu rekrutieren – aber es dürfen auch nicht zu viele werden. Guildo Horns Anhängerscharen bekämpfen sich momentan, indem sie sich gegenseitig vorrechnen, wie lange sie dem Meister schon huldigen. Wer zugibt, es erst seit wenigen Tagen zu tun, wird lange um Anerkennung in der Gemeinde der Jünger Guildo Horns buhlen müssen.
Ähnliches ist in der Grand-Prix- d'Eurovision-Szene zu beobachten. Das plötzliche Interesse an diesem Ereignis begrüßen die Fanklubs sehr – jahrelang hatten sie um Aufmerksamkeit gerungen. Nun hat Guildo Horn der Sendung eine Renaissance beschert. Trotzdem reagieren die langjährigen Fans auch ein wenig verschnupft auf diesen Rummel: Man fürchtet, das gute Gefühl zu verlieren, einer wissenden Minderheit anzugehören. Ist bad taste, schlechter Geschmack, unversehens Kult, droht auch schon die Einverleibung in den Mainstream: Wenn alle Guildo und Grand Prix gutfinden, hat es mit der Gemütlichkeit in einer der letzten Undergroundszenen ein Ende – und die feinen Unterschiede sind dahin.
Am Ende des Abends von Birmingham wird abgerechnet. Dann wird gefachsimpelt, werden neue Differenzierungen verabredet, Entscheidungen darüber getroffen, wen man gut fand und wen nicht. Bis dahin gilt die stille Verabredung: Der Grand Prix d'Eurovision verbindet ein paar Stunden lang alle Generationen und (fast) alle Schichten.
Wie in den sechziger Jahren, als Fernsehen noch als Familienkitt funktionierte. Besondern schön und immer dann, wenn alle gemeinsam eine Sendung schauten, die mit der Eurovisionsfanfare begann. Wie bei „Einer wird gewinnen“ mit Hans-Joachim (“Kuli“) Kulenkampff. Oder eben beim Grand Prix d'Eurovision. Als man erstmals Menschen hörte, die komische Sprachen sangen. Finnisch, Spanisch oder Holländisch. Und als Mutter Sandie Shaw für ein leichtes Mädchen hielt, die Schwester für Udo Jürgens schwärmte, Vater sprachlos blieb und man selbst überhaupt froh war, soooo lange aufbleiben zu dürfen...
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