: Unheilvoll strömende Körperschwaden
■ Der bisherige Direktor des Frankfurter Kunstvereins, Peter Weiermair, setzt mit „Eccentric Drawing“ noch ein letztes Mal auf Nacktheit, Erotik und kunsthistorisch verbrämte Pornographie
Der Zeichnung wird nachgesagt, sie wohne nah am Gedanken. Man sieht sie deshalb gerne als direktesten visuellen Ausdruck psychischer Befindlichkeit. Daß die Gattung kunsthistorisch eher als Entwurf, als erste Skizze einer Idee, also als Anfang eines „größeren“ Werkes betrachtet wird, gibt ihr heute das Flair des Unfertigen, Fragmentarischen – und damit Aktualität. Peter Weiermair, scheidender Leiter des Frankfurter Kunstvereins, hat sich in seiner Amtszeit vehement für die Gattung eingesetzt. Es ist deshalb ein deutlicher Schlußpunkt, wenn er seine letzte Frankfurter Ausstellung der Zeichnung widmet.
Unter dem Titel „Eccentric Drawing“ werden Arbeiten von sieben internationalen KünstlerInnen gezeigt. Darunter sind so unterschiedliche Positionen wie eine ausufernde Wandzeichnung Edwin Schäfers, mit Rotwein und Kaffee leicht hingeworfene Blätter von Didier Trenet und Pedro Proencas absurd scheinende, der barocken Buchkunst entlehnte Figuren-Tableaus. Das Exzentrische der Arbeiten kann formal damit erklärt werden, daß die Zeichnung für die Beteiligten das hauptsächliche Ausdrucksmittel ist, daß der ihr eigene Charakter des Vor- und Beiläufigen im Zentrum des künstlerischen Interesses steht. Aber die gezeigten Zeichnungen sind allesamt auch exzentrisch hinsichtlich ihrer Direktheit. Im Mittelpunkt der meisten Arbeiten steht der menschliche Körper, seine Physiognomie und Sexualität – dargestellt mit großer Phantasie, die getränkt ist von geschichtlichen Verweisen, voller Anspielungen auf kunsthistorische Sujets und Stile.
Darin liegt eine Lebendigkeit, die sie mitten im derzeitigen Trend zur Figuration, mitten in der Abkehr von ihren Kontext thematisierender aktueller Kunst plaziert. Für die Auswahl der KünstlerInnen war dies sicherlich ein Kriterium. Angesichts der leeren Kassen ist die Entscheidung für oder wider auch bedingt durch die für einen bestimmten Künstler anzapfbaren Geldquellen. Daß dies ein zweischneidiges Schwert ist, liegt auf der Hand: Zum einen gelangen so bisher in Deutschland nicht gezeigte Künstler an die interessierte Öffentlichkeit, zum anderen birgt die Finanzmisere die Möglichkeit der Intervention durch private Sammler, die die Mitfinanzierung des Katalogs in Aussicht stellen, wenn einer der Lieblingskünstler präsentiert wird.
So kommt man in den eher zweifelhaften Genuß der pompösen Arbeiten von Javier Gil aus Uruguay, einem Protegé des Frankfurter Sammlers erotischer Kunst, Dölp. Gil hat Batailles „Geschichte des Auges“ illustriert, gelangt dabei aber nur zu einer Version, in der die kopulierenden Körper nicht anders als das Klischee des Bizarren erscheinen. Seine großformatigen Kohlezeichnungen phantastischer, kathedralenartiger Innenräume setzten ebenso auf den bloßen Effekt wie seine Darstellungen sich gegenseitig abschlabbernder und penetrierender Phantasiegestalten – kunsthistorisch verbrämte Pornographie.
Penetriert wird auch in den Zeichnungen Astrid Strickers. Allerdings in einem ominösen Sinn. In ihren kargen Bleistiftzeichnungen sind Menschen zu sehen, die eher Träger bestimmter Bewußtseinszustände als reale Figuren sind. Die Proportionen der Gliedmaßen sind aus den Fugen geraten, manchmal sind sie ganz verstümmelt, manchmal reicht eine Art Nabelschnur durch den Körper einer Frau, auf deren Hand ein kleines Männchen sitzt. Wie unheilvolle Schwaden, wie nicht verschwinden wollende Nachtmahre ziehen Bleistiftflecken oder sachte Schraffuren durch Strickers Bilder.
Seit Anfang der 90er Jahre zeichnet der Kalifornier Jim Shaw seine Träume auf – in Worten und Bildern. Inzwischen gibt es davon mehr als 400 Blätter. Was bei ihm aus einer Verlegenheit entstand – das Anfertigen von preisgünstigen Arbeiten als Einstieg in den europäischen Kunstmarkt –, hat sich zu einem eigenständigen Werkteil entwickelt. Daß er die Form des Comics benutzt, zeigt eine unangestrengte Ironisierung des Wunsches, der eigenen Träume und damit seiner selbst durch deren Aufzeichnung mächtig zu werden. Die Kombination von Schrift und Bild zielt darüber hinaus auf die Spannung, die zwischen linearer Text- Erzählung und der Simultanität suggerierender Comic-Panels entsteht.
Traumbildern nicht unähnlich sind die Kreidezeichnungen des Österreichers Franz Mölk. In der Tradition des Manierismus zeichnet er Begegnungen zwischen Menschen, bei denen sich Erotik und Gewalt als nicht leicht voneinander zu unterscheidende Formen der Kommunikation zeigen. Während in einer Zeichnung eine Frau noch vom Leichentisch aus ihren Arm um den Liebhaber schmiegt, hält auf einem anderen Blatt eine der androgynen Gestalten ihre Handgelenke zur Fesselung bereit. Sie erntet nichts als Desinteresse der beiden anderen in dieser Zeichnung zu sehenden Figuren. Wenn diese Ausstellung eines deutlich macht, dann ist es die Gewißheit, daß nah am Gedanken Physis und Sexus ein dauerhaftes Lager aufgeschlagen haben. Die Zeichnung in ihrer Unmittelbarkeit hat den Vorteil, daß sie deren Untiefen hakenschlagend ausloten kann. Martin Pesch
„Eccentic Drawing“ im Kunstverein Frankfurt/M., bis 1.6.
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