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Im süditalienischen Sarno nahmen gestern Tausende Abschied von den Todesopfern der Schlammkatastrophe. Während die Suche nach Überlebenden weitergeht, sind die Schuldigen schon ausgemacht: die Regierung und die Camorra. Indes: Auch Bewohner der Region haben sich „ganz gebräuchlicher“ Umweltvergehen schuldig gemacht. Aus Sarno Werner Raith

Sündenbock Camorra

Das da“, sagt Geremia und deutet auf die Hügel ringsumher, „was da aussieht wie in den Dreck gefallener Schweizer Käse – das alles ist das Werk dieser Banditen.“ Der Vergleich hat was: Über die unzähligen abgebröckelten Hänge der Berge ringsumher hat sich eine grauschwarze Schmutzschicht gelegt, aus zahlreichen Höhlen und Einbuchtungen quellen mal flache, mal unförmig dicke Schlammzungen heraus. Doch der Eindruck täuscht: In Sarno, 30 Kilometer von Neapel entfernt, quillt nichts mehr, die Muren sind zum Stillstand gekommen, die Sonne trocknet den Schlamm aus.

Die „Banditen“ aber, von denen Geremia spricht, die sind lebendig und haben ihre Schäfchen im trocknen. Meint Geremia. „Alles Camorristen“, sagt er, „die haben hier Hunderte von illegalen Steinbrüchen angelegt, ohne Rücksicht auf die Grundwasserströme unter der Erdoberfläche, ohne nachzusehen, ob da Häuser drauf stehen, ohne Skrupel, wenn auch in diesen unabgesicherten Brüchen schon Dutzende von Menschen umgekommen sind. Viele Unfälle wurden nicht einmal gemeldet. Herzschlag hieß es oft – wer glaubt denn an so etwas bei 20jährigen Burschen.“

Räuberpistolen aus dem neapolitanischen Hinterland? Wohl kaum. Carabinieri-Feldwebel Petraccia, der aus der Gegend stammt und sich nach der verheerenden Naturkatastrophe in der vergangenen Woche aus Piemont zum Sondereinsatz in seine süditalienische Heimat gemeldet hat, nickt: „Alles Camorra-Arbeit“, sagt er, „die haben hier in der Region von Neapel alles in der Hand. Kein Bebauungsplan wird beachtet, keine Sicherheitstrasse geschlagen, und statische Berechnungen sind völlig unbekannt.“

Geremias Frau Angela hat noch immer rote Augen vom vielen Weinen. Ihre Schwester ist wahrscheinlich in einer der Schlammlawinen umgekommen, jedenfalls hat bisher niemand ein Lebenszeichen von ihr vernommen. Auch wenn immer noch Lebende unter den Dreckmassen gefunden werden – „es besteht kaum noch Hoffnung“, so der Carabiniere.

Und nun ist alles noch viel schwieriger geworden. Wenn der Schlamm trocknet, wird er im Nu steinhart, man kann ihn nicht mehr mit den Händen oder leichtem Werkzeug durchwühlen, um nach menschlichen Körpern zu suchen. Bulldozer müssen drüber, und „die reißen alles in Stücke“. Mehr als 200 Vermißte sind noch gemeldet. Die Zahl der geborgenen Toten war bis gestern auf 118 angestiegen.

Neben der verzweifelten Buddelarbeit gibt es für die Einwohner von Sarno, Sania, Quindici und Castellamare nur noch ein Thema: Wer hat schuld? Die Regierung natürlich. Die hat zwar, wie alle ihre Vorgängerinnen auch, seit ihrem Amtsantritt Soforthilfemaßnahmen versprochen, doch Geld ist noch immer keins angekommen. „Da hat es einige Verzögerungen gegeben“, räumt der Zivilschutz-Staatssekretär Franco Barberi ein. Er sagt es, als sei da jemand ganz anderer schuld. Dann ist da die regionale Verwaltung, die formell für den Umweltschutz zuständig ist und jetzt natürlich behauptet, von der Regierung keine Anweisungen bekommen zu haben. Schließlich die lokalen Behörden, die zwar nachweislich in großer Menge Alarmmeldungen an den Zivilschutz gegeben haben – die nicht erhört wurden –, die aber nach Ansicht von Geremias Frau „mit der Flinte nach Rom hätten marschieren und den Ministerpräsidenten persönlich hätten herholen müssen, damit etwas geschieht“.

Neu an den Schuldzuweisungen ist, daß die Leute auch die Camorra nennen. Als die taz vor einigen Jahren ein Porträt von Olga Santaniello machen wollte, der Bürgermeisterin von Quindici, die einen verzweifelten Kampf gegen die organisierten Banden geführt hatte, da schüttelten die meisten Einwohner den Kopf: „Die Camorra – hier? Das sind doch alles nur Phantastereien der Presse.“ Jetzt liegt Olga Santaniello tot unter den Schlammassen, und jetzt geben die Leute auch zu, daß die Camorra hier regiert.

Trotzdem, so ganz haut das doch wieder nicht hin, wenn man die organisierten Verbrecher zu den Alleinschuldigen erklären möchte. Geremia zum Beispiel räumt ein, daß er sein Häuschen am Stadtrand vor fünf Jahren auch ohne jegliche offizielle Baugenehmigung hingestellt hat. „Ein bißchen Schmiergeld hat's schon gekostet“, sagt er, „aber so machen das hier doch alle.“ Gebaut hat er mit Steinen aus einer Höhle, die beileibe nicht als Steinbruch freigegeben war, aber „die war eben näher als alle anderen“. Und was sei schon dabei, „das Zeug lag ja in der Höhle herum“. Das Delikate an der Sache: Dieses „Zeug“ in der Höhle hatte vordem eine Barriere gegen Wasserausbruch gebildet – Zeug, das am Ende fehlte...

„Ach was“, sagt Geremia und ist plötzlich ärgerlich, „den wirklichen Schaden haben doch die großen Steinfräsen angerichtet.“ Mag sein. Aber gut 10.000 Schwarzbauten in dem betroffenen Gebiet, zwei Drittel davon außerhalb der zur Bebauung freigegebenen Zonen, stellen zusammen nach Meinung nahezu aller Geologen einen mindestens ebenso schweren Eingriff in die Natur dar wie die Steinbrüche.

Die alten Bäume und Büsche, die auf seinem Grundstück standen, hat Geremia abgeholzt, um einen Garten anzulegen; die zarten Wurzeln der jungen Bäume jedoch halten das Erdreich nicht fest genug. Da diese Gebiete außerhalb der städtischen Besiedlung ja noch nicht einmal erschlossen waren, hat Geremia wie alle hier erst einmal einen eigenen Brunnen in den Stein geschlagen. Das Grundwasserbecken wurde unkontrolliert angezapft, womit große Hohlräume unter der Erde entstanden, in die die Oberfläche langsam hineinsackte. Am anderen Ende des Grundstücks hat Geremia das Loch fürs Abwasser gebuddelt. Hier bilden sich nun wieder neue Rinnsale, die bei starkem Regen unter der Oberfläche zu regelrechten Flüssen anschwellen.

Von alledem wollen Geremia und seine Frau nichts hören. „Wenn der Staat Jahrzehnte braucht, um Baugenehmigungen zu erteilen“, verteidigen sie sich, „dann muß man doch irgendwann einfach anfangen, sonst kommt man doch nie zu einem Dach über dem Kopf.“ Stimmt sicher, auch Carabiniere Petraccia sieht das so, obwohl gerade er als Vertreter der Obrigkeit ja eigentlich dagegen sein müßte.

Von oben auf dem Berg ist Geratter und Gedröhne zu hören. Bulldozer schieben allerlei Erdreich zusammen, weg von den Bergkanten, für den Fall, daß es noch mal zu regnen beginnt. Umweltexperten warnen jedoch genau vor dieser Vorgehensweise: Mit dem Wegschieben der Schlammmassen wird auch das Erdreich tief verletzt, meist bis weit in die Lehmschicht hinein. Auf der aber wächst zunächst einmal jahrelang kein Gras und kein Baum, und die Wurzeln können das Erdreich nicht halten.

Daß derlei Überlegungen derzeit in den betroffenen Gemeinden nicht opportun sind, hängt freilich auch mit gewissen Zukunftsperspektiven zusammen. Die Schuldzuweisung an die Camorra soll der Öffentlichkeit Rest-Italiens suggerieren, daß man nun einen „sauberen“ Neuanfang sucht – und dafür jede Menge Geld braucht. Die Regierung hat zur Soforthilfe bereits umgerechnet 50 Millionen Mark ausgewiesen, bis Jahresende soll eine gute Milliarde bereitstehen.

Das macht natürlich auch der Camorra selbst wieder großen Appetit. Aber sie weiß, daß das versprochene Geld nur kommt, wenn man sie als einzigen Schuldigen ausweisen und publicityträchtig außen vor halten kann. Und so läßt sie sich die Rolle des großen Verursachers gefallen, ohne wie sonst, wenn sie heftig angegriffen wird, umgehend mit Drohungen und Schüssen zu reagieren.

Statt dessen melden die Behörden im Umland bereits jetzt einen regelrechten Boom bei der Neugründung von Baufirmen – nach außen hin alles „saubere“ Firmen mit Geschäftsführern, die niemals vorbestraft waren. In Carabinieri- Feldwebel Petraccia werden da böse Erinnerungen wach. „Als sich 1980 und 1983 nicht weit von hier die großen Erdbeben ereigneten, lief das genauso. Da schrien auch alle gegen die Camorra und die Bauspekulanten. Dann kamen Milliarden über Milliarden Hilfsgelder. Fünf Jahre später mußten sich die Gerichte und parlamentarischen Unterschungsausschüsse mit der Verteilung der Gelder befassen. Und die waren großenteils in trübe Kanäle versickert.“

Geremia und seine Frau haben den Kopf gesenkt. „Wenn uns die Regierung kein Geld gibt“, sagt Geremia, „können wir alle hier in Sarno nur noch von den Felsen springen.“ Geremia weiß aus bitterer Erfahrung, daß es am Ende wohl nicht anders weitergehen wird als bei allen vorangegangenen Katastrophen: mit nichteingehaltenen Versprechungen, mit Schwarzbauten und Umweltzerstörung. Und am Ende auch wieder mit der Camorra.

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