: Gefährliche Kostendämpfung
Weil ihnen die Zuzahlung für Medikamente zu teuer ist, greifen immer mehr Patienten zu Hausmitteln. Gesundheitsbranche fordert Abschaffung der Zuzahlung ■ Von Alexander Bogner
Die erhöhten Zuzahlungen bei Arzneimitteln gehören wieder abgeschafft. Das forderten gestern die 30 Berufsverbände des Gesundheitswesens auf ihrer „Ständigen Konferenz“ in Hamburg. Durch die Zuzahlungserhöhung seien die Ausgaben der Patienten um mehr als die Hälfte gestiegen, obwohl weniger verschrieben wurde. Wegen der erhöhten Zuzahlung bei Arzneimitteln boomt inzwischen die Selbstbehandlung, wie eine Emnid-Studie für den Bundesverband der Pharma-Industrie (BPI) ergab.
29 Prozent der Bevölkerung wollen Emnid zufolge noch stärker auf rezeptfreie Medikamente zur Selbstbehandlung zurückgreifen. Liegt das Haushaltseinkommen unter 2.000 Mark, wie das gerade bei älteren Patienten oft der Fall ist, werden gar 36 Prozent frei verkäufliche Arzneimittel in Eigenregie anwenden. Beinahe jeder zweite nimmt die erhöhte Zuzahlung zum Anlaß, künftig seltener einen Arzt aufzusuchen. Und die Hälfte der Patienten will auch Rezepte, die der Arzt verschrieben hat, nicht mehr einlösen.
Mit dem zweiten Neuordnungsgesetz im Rahmen der dritten Stufe der Gesundheitsreform war die Selbstbeteiligung bei Medikamenten schlagartig in die Höhe geschnellt. Seit dem 1. Juli 1997 zahlen Patienten nicht mehr vier, sondern neun Mark für jedes Rezept aus der eigenen Tasche, bei der größten Normpackung N 3 sind sogar 13 Mark fällig. Die Ausgaben der Krankenkassen für Arzneien gingen 1997 um rund zwei Milliarden auf insgesamt 31,8 Milliarden Mark zurück. Nicht zuletzt dieser Privatisierungsschub hat maßgeblich dazu beigetragen, das Gesamtdefizit der Kassen von vier Milliarden Mark in den letzten sechs Monaten des Vorjahres in ein Plus von einer Milliarde zu verwandeln.
„Die Annahme, daß die sozialen Kosten dieses Wirtschaftserfolges in erster Linie auf den Schultern der älteren Patienten lasten, liegt schon deshalb nahe, weil über Sechzigjährige einen signifikant höheren Bedarf an Medikamenten haben“, erklärt Ulrich Schwabe, Professor am Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg. Bis die gesetzlich fixierte Belastungsgrenze erreicht ist, haben Senioren oft einen empfindlichen finanziellen Aderlaß hinter sich.
Daß aber Rezepte, die von den Patienten nicht eingelöst werden, ohnehin überflüssig waren, hält Schwabe für einen gefährlichen Trugschluß. Verschreibungspflichtige Medikamente, die vor allem von älteren Menschen konsumiert werden, wie etwa Mittel gegen Bluthochdruck, lassen sich nämlich nicht durch die Selbstmedikation ersetzen. Ein nicht eingelöstes Rezept bedeutet deswegen hier immer: keine Therapie.
„Bedenklich“ nannte das Ergebnis der Emnid-Umfrage der BPI-Vorsitzende Hans Rüdiger Vogel. Wenn der Patient aus Kostengründen eine verschriebene Therapie nicht wahrnehme, bestehe die Gefahr, daß die Krankheit chronisch werden könne. Und die kommen die Krankenkassen sehr viel teurer als akute Behandlungen.
Die Gesundheitsverbände wurden gestern noch deutlicher: Durch die neuen Patientenzuzahlungen werde die „Wiederherstellung der Gesundheit vom Portemonnaie abhängig gemacht“, so der Wortlaut einer Resolution von den 30 Berufsverbänden. Sie warnten gestern auch vor weiteren Arbeitsplatzverlusten: Bereits durch die Einsparung bei Kuren seien 23.000 Jobs vernichtet worden.
Und auch Pharma-Verbandschef Vogel vergaß nicht, aus der Studie Konsequenzen für die Verbandspolitik abzuleiten. Da 1997 der gesamte Markt der rezeptfreien Arzneimittel um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr geschrumpft sei, plädierte er dafür, mit der Werbung direkt bei den Verbrauchern anzusetzen. Weil Ärzte immer weniger rezeptfreie Medikamente verschreiben, nutze auch der Anstieg der Selbstmedikation der Patienten nichts. Vogel ging deswegen in die Offensive und forderte gleich die Aktualisierung des Heilmittelwerbegesetzes. „Besonders wichtig ist die Überarbeitung der sogenannten Krankheitsliste, die diejenigen Krankheitsgebiete verzeichnet, für die der Hersteller seine Präparate nicht beim Patienten bewerben darf.“ Bleibe die Werbung für Pharmaprodukte weiterhin den geltenden Restriktionen unterworfen, käme dies „fast einem Marktverbot gleich“, dramatisiert Vogel. Die Vision der Pharmaindustrie, ihre Pillen und Salben könnten in den Tresoren der Apotheken vergammeln, weil die neue Kundschaft nichts von deren speziellen Wunderkräften weiß, läßt sich derzeit allerdings durch Zahlen nicht stützen.
Von einem Einbruch der Branche aufgrund der Zuzahlungsänderung kann keine Rede sein. Der Umsatz stagniere zwar, erklärt Gerd Foh von der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, das sei jedoch „nichts Neues“. Der Umsatz mit Pharmazeutika hat sich in den letzten Jahren relativ stabil bei 50 Milliarden Mark eingependelt. Der Umsatz stimmt also, doch ob die Produke bei dem aktuellen Trend zu einer Do-it-yourself-Medizin auch ihre Heilkräfte entfalten, ist fraglich.
Die abrupte Verwandlung des hilfsbedürftigen Patienten in einen eigenverantwortlichen Selbstheiler, die die Meinungsforscher diagnostizieren, dürfte besonders den alten Menschen schlecht bekommen. Achtzigjährige, so fand das Pharmakologische Institut in Heidelberg heraus, leiden durchschnittlich an sieben veschiedenen Grundkrankheiten. Langzeittherapien mit ein oder mehreren Medikamenten gegen chronische Leiden sind die Regel. Der BPI empfiehlt den Senioren deshalb, sorgfältig darauf zu achten, „daß die verschiedenen Arzneimittel sich nicht gegenseitig in ihren Wirkungen beeinflussen“. Merke: Für ein zweites Studium ist es nie zu spät.
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