■ Nachschlag: Menschen und Rebhühner – Teatr Kreatur im Theater am Ufer
Zerschlissene Vorhänge, ein altes Bett und eine Standuhr, die längst keine Zeiger mehr hat. Eine Jahrmarktszenerie im Nirgendwo. Weiße Wolken aus zerknülltem Papier reihen sich gegen Ende darüber auf. Rundherum führen Gleise, über die ein Zug mit kleinen Waggons geschoben wird, auf denen allerlei Kuriositäten stehen. Ausgestopfte Tiere und Menschen, ein Skelett und Elefantenzähne: „Menschen, Löwen, Adler, Rebhühner“ eben, wie die jüngste Inszenierung Andrej Worons heißt. Einmal sind es sogar blühende Kirschbäume im Schnee. Auf alten Klappsitzen haben irgendwann die Darsteller Platz genommen. Vor hundert Jahre lebten sie als Figuren in Stücken Tschechows. Firs (Holger Madin), der alte Diener aus dem „Kirschgarten“, der jetzt zum alten Juden im schwarzen Kaftan geworden ist. Die Schauspielerin Arkadina (Danuta Kisiel), Gutsverwalter Schamrajew (Dzidek Starczynowski) oder der Dichter Trigorin (Peter Lewan), der etwas von Tewje, dem Milchmann hat. Wir kennen sie schon aus Tschechows „Möwe“. Nun tauchten sie in den Tschechow-Metamorphosen Benjamin Smechows wieder auf, der Worons Textvorlage schrieb. Die alten Tschechow-Kleider muffig, die Gesichter bleichgeschminkt und starr. Bloß lebendig sind sie nicht mehr, sondern geistern als lebende Tote in ihren abgetragenen Kleidern herum.
Zu Beginn hatte der Dichter Kostja (Janusz Cichocki) seine Theater-Utopie auf den Punkt gebracht, die Kunst sollte nicht das Leben abbilden, wie es ist, sondern wie es uns im Traum erscheint. Was aber, wenn dieser Traum ein Alptraum ist? Denn schließlich wissen wir, was der osteuropäischen Welt, die Woron mit seinem Theater immer wieder beschwört, geschehen ist. Der Künstler Kostja will keine Kratzer an seinem Traum und prügelt den Juden, als der ihm vom „Haus in Asch und Brand“ singt. Später verkündet er kopfüber Edward Gordon Craigs semitotalitäre Theorie von der körperlosen Übermarionette. Woron läßt uns keine rechte Freude finden an der wundersamen Melancholie, die auch die Bühnenmusik von Janusz Stoklosa auf das schönste unterstreicht. Und wo man eben noch staunte und mit den Figuren in lyrischer Schwermut versinken wollte, wendet man sich nun fast angewidert ab. Als der Lehrer Medwedenko (Bernd Ludwig) sich plötzlich übergibt und das Erbrochene lange Zeit als Zumutung vor den Zuschauern liegen bleibt. Als eine uralte Frau (Susanna Capurso), deren Gesichtshaut sich in Verwesung schon ablöst, ihre Handtasche öffnet, daraus irgendeine schwarze, klebrige Substanz löffelt und dabei auch Teile der verwesenden Gesichtsoberfläche mitverzehrt. Esther Slevogt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen