: Zeitgemäße Entbehrungen
■ Brecht zwischen Broadway und Brigade: Stefan Bachmann inszeniert mit Der kaukasische Kreidekreis überraschenden Agit-Pop am Schauspielhaus
Das Theater im Zeitalter der Arbeitslosigkeit muß Farbe bekennen. Meint Regisseur Stefan Bachmann, bald Oberspielleiter des Basler Theaters, und will mit seiner jüngsten Inszenierung am Schauspielhaus sein neu erwachtes Interesse an „klaren Aussagen“ vermitteln. Ursprünglich war Der gute Mensch von Sezuan als großer Beitrag zum Brecht-Jubiläumsjahr geplant, doch schien Bachmann die komplexe Dialektik des Stücks nicht intelligent umsetzbar. Die menschliche Tat der Magd Grusche in Der kaukasische Kreidekreis hingegen biete eine fast „urchristliche Moral“. Ihre Entscheidung, mit dem zurückgelassenen Kind des ermordeten Gouverneurs aus den Wirren der Revolte zu flüchten und gegen alle Widerstände bei sich zu behalten, ist entbehrungsreich – also unzeitgemäß-aktuell.
Der Grusche (gespielt von Marion Breckwoldt) als „Heiliger wider Willen“ steht im Stück der Dorfrichter Azdak gegenüber, eine Eulenspiegel-Figur: Azdak ist bekannt für seine Robin-Hood-Rechtsprechung, will aber andererseits selber passabel leben – auch auf Kosten der Armen. Ein undurchsichtiger Charakter, dessen Verschlagenheit Bachmann bis zum letzten Bild ausspielen will. „So hat man den Azdak noch nicht gesehen, André Jung holt die ganze Breite der Person hervor“, verspricht Dramaturg Lars-Ole Walburg.
Am Ende muß Azdak darüber entscheiden, ob die leibliche Mutter oder Grusche das Kind bekommen soll. Er ordnet die Kreidekreis-Probe an: Die Frauen ziehen an je einem Arm Michels, der in einem aufgemalten Kreis steht, die richtige Mutter wird die stärkere sein. Grusche läßt zweimal los, bekommt aber Michel, denn die Moral lehrt: „...daß da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind“, wie Brecht den Sänger am Ende seiner Geschichte vom Kreidekreis sagen läßt. Er hat sie den Angehörigen zweier Kolchosen erzählt, die mit ihrer Hilfe den schwelenden Streit um die Nutzung eines Tals beilegen sollen. Daß das Tal im Kaukasus liegt, hatte für Brecht zur Entstehungszeit 1940-44 eine sehr konkrete Bedeutung, konnten doch die sowjetischen Truppen dieses Territorium zuerst von den Nazis befreien.
Andererseits wollte Brecht mit dem Stück ursprünglich einen Broadway-Erfolg landen, der ihm Zugang zur New Yorker Szene verschaffen sollte. „Es ist unglaublich, wie der Verfremdungsmensch da Hollywood reinschreibt“, sagt Marion Breckwoldt. Und Bachmann ergänzt, daß es auch in Brechts Kleinem Organon dauernd ums „Unterhalten“ gehe. Vielleicht gewinnt der Klassiker des Sozialismus ja via Entertainment noch einen neuen Reiz. Jörg Metelmann
Premiere: Freitag, 15. Mai, 19.30 Uhr, Schauspielhaus
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