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■ Wahrheit-Reporter vor Ort: Tag der offenen Tür beim Wetteramt PotsdamNeid auf die Sonde

Aus einem medizinisch-meteorologischen Faltblatt: Die „gefühlte Temperatur“ hängt ab von Windstärke, Sonnenstrahlung und Luftfeuchtigkeit (berechnet nach dem Klima-Michel-Modell, das auf der Behaglichkeitsgleichung von P.O. Fanger basiert)

25 Grad im Schatten, 32 Grad in der Sonne und 41 Grad im Schienenersatzverkehr: Für seinen Tag der offenen Tür hat das Wetteramt Potsdam optimale Bedingungen geschaffen, scheint es. Das Amt residiert in der Michendorfer Chaussee, links steigt Wald, zur Rechten liegt die Vorderkappe, eine Bucht des Templiner Sees. Die Einfahrt „Zum Deutschen Wetterdienst“ geht rechts rein, vorbei an Pförtnerhäuschen und Fallbaum gelangt man zu den schmutzfarbenen Gebäuden und Baracken aus den 50ern. Vielleicht auch wegen der vielen Rasenflächen und Bäume erinnert die Anlage an eine psychiatrische Klinik.

Vor der Kantine steht in rotem Kunstfaserhemd und Streifenjeans Matt König, ein ehemaliger Radiomoderator. „Liebe Freundinnen und Freunde“, ruft er mit wacher Stimme und übernächtigtem Gesicht ins Mikro, „da oben schwebt die Radiosonde gerade in 1.600 Meter Höhe!“ Matt guckt in die Luft, und auch die versammelten Familien und Senioren haben die Köpfe in die schweißnassen Nacken gelegt. „Dort ist es zwölf Grad“, sagt er und antwortet auf das allgemeine Getuschel: „Ich such' sie auch gerade. Na ja, wenn man den Himmel abscannt, müßte man sie eigentlich erkennen... Auf jeden Fall steigt die Sonde mit 220 Metern pro Minute. Da platzt sie sowieso bald.“ Er wird uns auf dem laufenden halten. Warum Matt das macht? Matts Onkel sitzt im „Organisationskomitee“.

Aus den Lautsprechern dudelt Musik, auf der Wiese steht ein Bus des wetteramtlichen mobilen Einsatzkommandos, ein Ü-Wagen für „mobile meteorologische Meßeinsätze“. Daneben drehen sich Schalenkreuz und Windfahne einer Bodenmeßstation, die übrigens auch gemietet werden kann. Die Männer, die hier über das Wetter reden, smalltalken nicht, sondern fachsimpeln. Während sie – „du, das ist ein DX 2-0-7“ – Abkürzungen austauschen, stopft die Masse im Schatten geblümter Sonnenschirme Hochglanzbroschüren und Deutsche-Wetterdienst-Sticker in bedruckte Baumwolltaschen. Alles gratis. Dann ruft Matt Nummern aus. Nach jeder Nummer blickt jeder auf die Abrißmarke, die er vom Pförtner bekommen hat, verlost werden „Prima-Klima-Deutscher-Wetterdienst-T-Shirts“. Nach zig Ansagen ohne Antwort tritt endlich ein Gewinner vor. „Welche Größe?“ fragt der T-Shirt-Ausgabe-verantwortliche Meteorologe mit Sonne, Wolken und Wetterfrosch auf dem Schlips. „Fünf“, entgegnet der Glückliche. Was nicht weiterhilft. Ein West-geschulter Besucher schreit „XXL!“. Der Gewinn wird überreicht, Matt spielt wieder Musik, und die Menge der Enttäuschten entfernt sich.

Zum Beispiel Richtung Tropfenauffangapparat, der zum Glück im Schatten steht. Herr Bleek erläutert: „Der erste Tropfen wird also quasi als Beginn des Ereignisses des Niederschlages gewertet, der letzte Tropfen dann entsprechend als Ende des Niederschlages.“ Das leuchtet ein; Wissenschaft zum Anfassen. Im Gebäude zur Linken ist neben den neuesten bzw. letzten Robotron-Rechnern (K 7221 und K 8912) ein Sichtweitenmeßgerät zu bewundern. Seltsam nur, daß das Display trotz blauen Himmels nur 700 Meter anzeigt. Doch Herr Pfeuffer klärt auf: „Da wird der Dreck auf dem Fenster als Nebel gewertet.“ – Das kennt man von daheim.

Weiter, über die Wiese unter einen weißen Baldachin. Hier hängen an einer Stellwand Plakate, die über das „Verdunstungskomponentensystem“, kurz VEKOS, belehren, welches das Phänomen der „Gebietsverdunstung“ erhellen soll. Es handelt sich um eine moderne Technologie, die verstärkt vorangetrieben wurde, seit sich vor Jahren hier ein ganzer Staat in Luft auflöste. Eine hingegen uralte Technologie ist die Windfahne. Sie gab's schon 4.000 vor, im antiken Mesopotamien. Papst Nikolaus I. (858–867) sorgte für die große Verbreitung in Europa, indem er allen Kirchen die Montage befahl. Den Hahn wählte Nikolaus als Symbol, weil Petrus Jesus verleugnete, „Ehe der Hahn krähen wird...“. Der Wetterhahn erinnert also an eine Lüge Petri. Das paßt ja. Nur daß die historische Lüge eine Notlüge war, indes die Lüge bei den modernen Wettermachern Methode hat. Folgerichtig beschreibt das wetteramtliche Informationsblatt „Geschäftsfeld Medien“ die TV-bekannten Computeranimationen als „filmreife Szenen, bei denen wir hinter den Kulissen die Fäden ziehen“. Die Werbeschrift betont, man sei „locker für jede Sendung zu haben“.

Matt, auch locker für alles zu haben, gibt derweil die aktuellen Daten durch: „Der Ballon befindet sich in acht Kilometer Höhe, wo es minus 33 Grad ist.“ Die Sonde ist zu beneiden. Nach der VDI- Richtlinie 3787 Blatt 2 (Entwurf) entsprechen die jetzt vom Publikum gefühlten 38 Grad plus dem thermischen Empfinden „sehr heiß“. Was eine „extreme Belastung“ bedeutet. Auf Wiedersehen, Wettermacher. Sven Hillenkamp

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