: Auf Brooklyns Straßen entscheidet der Spielstil
Der Dokumentarfilm „Soul in The Hole“ versucht die Seele des Basketball in der New Yorker Neighbourhood aufzuspüren ■ Von Henning Harnisch
The Goat“ taucht in keiner offiziellen Statistik auf. Für eine 60-Dollar-Wette dunkt „The Goat“ den Ball sechsunddreißigmal in Folge rückwärts bei einer Körpergröße von 185 Zentimetern. Jede US-amerikanische Großstadt hat ihre „Goats“, Basketball-Legenden, die trotz außergewöhnlichen Talents nicht in den Annalen auftauchen. Earl „The Goat“ Manigault ist ein Produkt des Streetball, dieser anarchischen Variante des Spiels, und steht exemplarisch für viele hochtalentierte afroamerikanische Sportler, die sich nie basketballerisch disziplinieren ließen.
„Booger“ ist schon jetzt eine Legende. Im Sommer 1994 ist er der Staraufbauspieler einer All-Star- Mannschaft aus Brooklyn, die unter dem Namen Kenny's Kings auf Freiplatzturnieren für Furore sorgt. Dokumentarfilmerin Danielle Gardner und Produzentin Lilibet Foster begleiteten das Team sowie den Trainer Kenny Jones vor, während und nach den Spielen. So entstand „Soul in The Hole“. Heute läuft der Film in den deutschen Kinos an.
Diverse US-amerikanische Filmprojekte haben sich in den letzten Jahren am „hippen“ Thema Basketball versucht und sind größtenteils in Deutschland gelandet. Der mainstreamige Hollywoodstreifen „White Men Can't Jump“ war in den Kinos, ebenso der kinderfreundliche „Space Jam“, der Michael Jordan verkaufsfördernd an das Warner- Brothers-Universum andocken ließ. „Above the Rim“ gibt's beim gutsortierten Videohändler und ist als musikvideokompatibler Schnellschuß eigentlich nur Freunden des vor eineinhalb Jahren ermordeten Rappers Tupac zu empfehlen. Der nämlich spielt eine der Hauptrollen. Ende Januar zeigte arte die Langzeitstudie „Hoop Dreams“, die zwei afroamerikanische Basketballer auf ihrem Weg durch die amerikanischen Basketballinstitutionen begleitete.
Am ehesten mit letztgenanntem Film ist „Soul in The Hole“ zu vergleichen. Während „Hoop Dreams“ über viereinhalb Stunden anhand der basketballerischen Träume zweier Protagonisten die offiziellen Schulstätten Highschool und College der US-amerikanischen Sportkultur kritisch beleuchten, versucht „Soul in The Hole“ in wesentlich kürzerer Zeit (105 Minuten) die vielzitierte „Seele“ des Spiels aufzuspüren. Gegenstand des dokumentarischen Projekts ist die inner-city-Jugendkultur mit ihren Codes, festgemacht an einer Basketballmannschaft.
Diese wird hauptsächlich durch den charismatischen, street wisen Staraufbauspieler Ed „Booger“ Smith sowie den als Trainer fungierenden Namenspaten der Mannschaft, Kenny Jones, personifiziert. Jones arbeitet hauptberuflich als Alkoholverkäufer, seine Liebe und Leidenschaft aber gilt seiner Mannschaft, die er aufopferungsvoll nicht nur während des Spiels, sondern auch im konfliktären Stadtviertelleben unterstützt. Booger wohnt bei der Jones-Familie, nachdem er vor Jahren zu Hause rausgeworfen wurde, Kenny um einen Schlafplatz gebeten hatte und aus einer Nacht drei Jahre wurden.
Der Filmtitel könnte nicht nur griffiger Musikalbumname sein (was er als soundtrackige Zweitverwertung zum Film dann auch wurde), sondern steht neben „The Malcolm X Invitational“, „It's A Fila Thang“ und „The Mecca“ für eines der Streetballturniere in Brooklyn, an denen Kenny's Kings teilnehmen. Organisiert von lokalen Größen, sind sie als sozialer Ort ein wichtiges Element in der Neighbourhood.
Kenny's Kings sind die Attraktion des Sommers, „loaded with talent“, zelebrieren sie, frei von taktischen Zwängen, das Spiel und siegen sich von Turnier zu Turnier. Die Stärke des in der deutschen Fassung untertitelten Films ist es, die besondere Atmosphäre dieser immer an der Grenze zum Chaos operierenden sozialen Ereignisse durch eine große Nähe von Bild und Ton zu vermitteln. Man ist Zeuge einer intensiven Unterhaltung zwischen dem massigen Trainer der Kings, Kenny, und einem Schiedsrichter, in der heftigst über den Gebrauch des Wortes „Fuck“ verhandelt wird, bemerkt das extreme Aggressionspotential dieser Events, kann aber auch einfach allerfeinsten „Schoolyard Ball“, unterlegt von HipHop-Sounds, genießen.
So wie Bolzplatzfußball nur bedingt mit Vereinsfußball zu vergleichen ist, wird in der US-amerikanischen Sportterminologie ganz streng zwischen „Schoolyard Ball“, der untutorierten, undisziplinierten Form, und dem strategischen, standardisierten „Classroom Ball“ differenziert.
„Die Fans sind hier, um Theater zu erleben, etwas Rhythmisches, etwas Erstaunliches.“ Diese Worte des Schriftstellers Barry Beckham beschreiben gut den Beat und Groove der Streetball-Turniere, die für die beteiligten Spieler eine Bühne darstellen, auf der Spielstil über Reputation entscheidet. Einen Spieler von Kenny's Kings sieht man in allen Spielausschnitten nur 360-Grad-Dunkings vollführen – selbst für Dunking-Spezialisten eine große Herausforderung. Aber besonders die improvisierten, eleganten Moves des kleinen Booger führen zu verzückten Reaktionen der Zuschauer – der Autor fordert die Zeitlupe. Die Dokumentation schafft es zudem, durch einen steten Wechsel der Ebenen Spiel/ Bühne und profanes innerstädtisches Alltagsleben eine Tiefe und Vielschichtigkeit zu bekommen, die sowohl Lebensfreude vermittelt als auch mit Hilfe von Interviews und langsamen Straßenszenen zu einer Entmystifizierung des „Ghettolebens“ beiträgt.
Unpädagogisch und wertfrei wird einem klargemacht, warum der auf Streetball-Level exzellierende Booger, wie so viele andere vor ihm, den Sprung in die „offizielle“ Basketballwelt nicht schaffen wird. Am Ende begleitet man Booger aufs Junior-College in die Wüste von Arizona – die ersten weißen Menschen tauchen auf – und auch wenn man nicht mit dem Rekrutierungssystem im US-amerikanischen College-Sport vertraut ist, wird einem klar, daß diese Welt nur schwerlich mit dem aufregenden New York konkurrieren kann. Archivbilder und Livemitschnitte im Abspann liefern Beweise für den sportlichen Erfolg der anderen Kenny's Kings. Von Booger fehlen diese Bilder.
taz-Autor Harnisch ist Basketballprofi beim deutschen Meister Alba Berlin und Nationalspieler.
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