piwik no script img

Popanz, Punk und Politik

■ Christoph Schlingensief suchte sich in Hannover DirektkandidatInnen für den niedersächsischen Landesverband von „Chance 2000“ zusammen und kollidierte dabei mit der Pogo-Partei APPD

Christoph Schlingensief ist wieder da und in den Medien. Am Sonntag abend gründete der umtriebige Dauermacher im Niedersächsischen Staatstheater in Hannover den Landesverband für seine Partei „Chance 2000“ und ließ im Schnellverfahren Direktkandidaten aufstellen und absegnen. „Wähl dich selbst“ ist die einzige Parole einer Partei, in der sich jedeR auf die eigene Landesliste wählen lassen kann. „Für mich ist der Direktkandidat interessant, der einfach losmarschiert. Das ist mein Referenzmodell“, sagte Schlingensief nach der Show, mit der er selbst nicht unbedingt zufrieden war. Eigentlich wollte er den Unsichtbaren der Gesellschaft einen Ersatz für den öffentlichen Raum anbieten, um darin gehört zu werden. So richtig funktionieren wollte das Spektakel aber nicht.

Auch die anwesenden ZuschauerInnen hatten etwas anderes erwartet, ein wenig mehr Inszenierung vielleicht. Immerhin hinterfragte der Aushängeprovokateur permanent sein eigenes Auftreten und fragte nach dem Zustand von Realität und Theater. Das neue, experimentelle Happening zog sich in die Länge. Mehr Aufmerksamkeit als „Chance 2000“ erregten deshalb die Mitglieder der APPD, die auf den Freitreppen Unterstützungsunterschriften sammelten. Die Anarchistische Pogo Partei Deutschland gibt es bereits seit 1981. Sie bezeichnet sich als den „legalen Arm der Chaos Tage“ und hat ebenfalls für dieses Jahr zum Sturm auf den Bundestag geblasen. Mit „Arbeit ist Scheiße“-T-Shirts und „Dumm und Glücklich“-Postern beherrschten die Punker das Bild und hatten ihren Kanzlerkandidaten Karl Nagel in seine alte Heimatstadt eingeflogen. Die anwesenden Gäste waren von gleich zwei verrückten, neuen Parteien sichtlich irritiert. Viele hielten die Punker für einen Teil einer Heiner-Müller-„Germania“-Inszenierung, die zufällig gerade im Erdgeschoß des Theaters stattfand. Diese Irrenden leisteten bereitwillig die Unterstützungsunterschrift für die Wahlzulassung von „Chance 2000“.

Punkerfürst Karl Nagel ist fest entschlossen, einen anderen Weg beim Stimmenfang zu gehen als über die bloße Inszenierung von Provokationen. „Schlinge weiß genau, daß er die 30.000 Unterschriften für die Zulassung zur Wahl nicht mehr zusammenkriegt. Wir haben dagegen ein loses Netzwerk von Parteimitgliedern, die das Wunder möglich machen werden. Was wir machen, ist eine Art von lustiger Verschwörung. Unsere Slogans appellieren an jeden Nichtwähler und Politikgeschädigten. So wird die APPD über 0,1 % kommen. Dann werden wir die Wahlkampfkostenrückerstattung von ein paar tausend Mark direkt mit unseren WählerInnen versaufen. Wir sind die einzige Partei, wo man seine Stimme austrinken, wegwerfen und recyclen kann.“

Die wiederholte Inszenierung der Chaos Tage durch Aushöhlung des Medienapparates hat auch den Meister neuer Theaterformen beeindruckt, der von den Pogo Anarchisten zum Minister der totalen Rückverdummung gekürt wurde. „Wir treffen uns total, was das Spielen mit der Erwartungshaltung angeht. Es ist die Frage, was die Leute aus sich heraus projizieren, wenn sie auf einen Anlaß reagieren, der eine fiktionale Projektion ist. Ich schätze, Karl Nagel und wir versuchen, für die gleiche Gruppe von Leuten zu sprechen“, diktiert Christoph Schlingensief.

Für August hat die „Chance 2000“-Partei einen Campingplatz am Wolfgangssee gemietet, um mit 300 anderen Arbeitslosen, parallel zu den Kanzlerferien, Urlaub zu machen und „den Wolfgangssee zum Überlaufen“ zu bringen. „Wer diesen Campingplatz betritt, ist längst schon von der österreichischen Gemeinde kriminalisiert worden. Da trifft die metaphysische Obdachlosigkeit auf die reale Obdachlosigkeit. Sowas kann man pädagogisch wie die APPD angehen, aber Chance 2000 will etwas anderes. Wir wissen nicht, auf was wir treffen, und das macht es so spannend. Die APPD ist schon zu sehr im System drin oder versucht, sich daran zu quälen oder reiben.“

StErn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen