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Die starke Tochter

In Berlin wurde sie zur Prostitution gezwungen. Nach Wochen der Qual floh sie vor den MenschenhändlerInnen. Zurück in Thailand brachte Sang Boachan die Frau vor Gericht, die sie nach Deutschland lockte – für Thailands Justiz der erste Prozeß dieser Art  ■ Aus Bangkok Jutta Lietsch

In ihrem Dorf im Nordosten Thailands wartet Sang Boachan* auf die Geburt ihres Kindes. Von dem Holzhaus auf hohen Stelzen, in dem Sang mit ihrem Mann, ihrer Mutter, dem Bruder und der Schwägerin lebt, sind es nur ein paar Schritte bis zum Mekong. Gelbbraun und langsam fließt der mächtige Strom zwischen Thailand und Laos. Es duftet nach Bäumen und Blüten. Tabak und Reis stehen auf den Feldern, Bananenstauden, Kokospalmen und Papayas wachsen zwischen den Häusern. Wenn die schrecklichen Erinnerungen wiederkommen, setzt Sang sich ans Flußufer, vor den Schrein mit den Buddhafiguren, wo keiner sie stört. Und dort sieht sie keiner. Sang, 26 Jahre alt, ist die starke Tochter, die seit frühester Kindheit das Geld für die Mutter und vier Geschwister verdient.

Niemand in der Familie soll wissen, was damals in Deutschland wirklich mit ihr geschah: Vor vier Jahren geriet sie in die Fänge von MenschenhändlerInnen, die sie nach Berlin lockten und zur Prostitution zwangen. Sie ist eine von Tausenden Frauen und Mädchen, die in den letzten Jahren aus Armut oder Naivität Opfer des modernen Sklavenhandels wurden.

Schier unermeßlich scheint die Nachfrage. Niemand kennt die genauen Opferzahlen. Allein in Deutschland registrierte die Polizei 1996 über tausend Fälle von Menschenhandel. Doch die Dunkelziffer ist, so glauben ExpertInnen, viel höher. Wehren können sich nur wenige. Und selbst wenn die Puffbesitzer und Zuhälter bestraft werden, bleiben ihre Komplizen im Ausland fast immer unbehelligt.

Doch die Thailänderin Sang, die nie zur Schule gehen durfte, weder lesen noch schreiben kann, hat das gewagt, was vor ihr noch kein Opfer gewagt hat: sie bringt die Agentin der MenschenhändlerInnen in Bangkok vor Gericht.

Der Fall Sang offenbart, wie weit die Realität entfernt ist von den Beteuerungen deutscher und thailändischer Politiker, den Sklavenhändlern des 20. Jahrhunderts endlich das Handwerk zu legen. Selbst da, wo guter Wille vorhanden ist, scheitert die Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg häufig an der Bürokratie.

Begonnen hat Sangs Alptraum an einem Wintertag des Jahres 1994, als sie in Berlin aus dem Flugzeug stieg. In der Hand hielt sie ein Foto ihrer künftigen Arbeitgeberin, die sie, wie sie glaubte, in der Küche ihres thailändischen Restaurants beschäftigen würde. Wilai, eine angeheiratete Verwandte aus Bangkok, hatte ihr die Arbeit vermittelt. Sie war eines Tages in das Schneidergeschäft von Sangs Schwester gekommen und hatte ihr erzählt, ihre Freundin in Deutschland suche mehrere Köchinnen. Das Gehalt sei gut. „Sang, ist das nichts für dich?“ fragte die Schwester. Sang, die jahrelang einen Imbißstand betrieben hatte, willigte ein.

Um das Flugticket und die für ein deutsches Visum nötige Einladung aus Berlin kümmerte sich Wilai, die als Buchhalterin im Forstministerium arbeitet. Sie kaufte mit Sang Winterkleidung, begleitete sie zur Deutschen Botschaft in Bangkok und zeigte ihr, wo sie ihre Unterschrift setzen mußte. „Ich habe ihr vertraut“, sagt Sang. In Berlin stand Nong, eine mit einem Deutschen verheiratete Thailänderin, wie verabredet am Flughafen. „Kochen wirst du hier nicht“, sagte sie Sang allerdings. „Du wirst eine andere Arbeit machen.“

Gemeinsam mit zwei deutschen Männern brachte sie Sang in eine kleine Wohnung, wo bereits mehrere junge Thailänderinnen lebten, zwei von ihnen Nichten Nongs. Was Sang nicht ahnte: Ihre „Arbeitgeberin“ hatte in mehreren Zeitungen Anzeigen geschaltet: „Thais in Strapsen – Thai-Modelle besuchen rund um die Uhr in Haus oder Hotel. Telefon ...“ Die Kunden riefen an, verabredeten mit Nong oder ihren beiden deutschen Partnern, wann das „Modell“ wohin kommen sollte. Ein Fahrer brachte das Mädchen zum Kunden, klingelte, ließ sich das Geld geben, sagte, wann er sie wieder abholen würde, und verschwand. Nichts davon verstand Sang, als sie nach ihrer Ankunft verstört und übermüdet in der Wohnung saß und die fremden deutschen Stimmen hörte. Aber: „Ich wußte, ich saß in der Falle.“

„Ich habe Nong angefleht, mich nach Bangkok zurückgehen zu lassen“, erinnert sich Sang. „Ich versprach, zu Hause für das Flugticket zu arbeiten und ihr alles zurückzahlen.“

Doch Nong lachte nur: Soviel könne Sang in Thailand niemals verdienen. Sie schulde ihr für den Flug und andere Ausgaben 150.000 Baht – damals mehr als zehntausend Mark. Erst wenn sie diese Summe abgearbeitet hätte, dürfe sie wieder nach Hause. „Schneller als in zwei Monaten schaffst du das nicht“, sagte eines der Mädchen in der Wohnung. „Ich glaubte am ersten Tag noch, sie würden mich in eine Bar bringen“, sagt Sang. Statt dessen schubste der Fahrer sie in die Wohnung eines alten Mannes. „Wie wahnsinnig“ sei der gewesen, erinnert sie sich. Fliehen konnte sie nicht, wegen eines großen Hundes, der im Flur knurrte.

Nachdem der Mann sie vergewaltigt hatte, beachtete er sie nicht mehr. Sie saß im Zimmer, bewacht von dem Hund, bis der Fahrer sie abholte. Er brachte sie gleich zum nächsten Kunden – der sie zum Analverkehr zwang, bis sie blutete. Als sie weinend in die Wohnung zurückkam, sagten die Nichten zu ihr: „Weglaufen kannst du nicht. Nong ist mächtig, sie zwingt sogar uns, ihre Verwandten, zu dieser Arbeit.“ Wenn sie Ärger mache, würde es ihr und ihrer Familie in Thailand schlechtgehen. Doch Sang trieb nur ein Gedanke: fliehen. Als Nong sie zur Untersuchung ins Krankenhaus brachte, erkannte ein thailändischer Übersetzer die Not der jungen Frau. Er steckte ihr einen Zettel mit einer Adresse und Telefonnummer zu.

Der erste Fluchtversuch nach einer knappen Woche mißlang kläglich: Ein Kunde hatte sie weggeschickt, weil sie sich weigerte, seinen Wünschen nachzukommen. Auf der Straße hielt sie einen Polizeiwagen an und zeigte den Zettel. Die Polizisten setzten sie jedoch an der nächsten Telefonzelle ab. „Ich hatte aber kein Geld“, sagt Sang. Sie klingelte im Nachbarhaus. Als eine Frau die Tür öffnete, hielt Sang ihr verzweifelt das Stück Papier entgegen. Die Frau schüttelte den Kopf und schloß die Tür. „Ich wußte nicht mehr weiter. Ich bin zurück zum Haus des Kunden gegangen.“ Dort stand bereits der Wagen des Fahrers. In ihrer Wohnung verkaufte sie für dreißig Mark ihr Kleid an eines der anderen Mädchen, um zu Geld zu kommen.

Der zweite Versuch klappte: Ein Taxifahrer brachte sie zu der Adresse, die auf dem Zettel stand. Sang fand Hilfe bei der Berliner Organisation Banying, die sich seit Jahren um Frauen kümmert, die Opfer von Menschenhändlern wurden. Als die Polizei die Wohnungen Nongs und ihrer deutschen Helfer durchsuchte, fand sie Kundenkarteien und andere Dokumente – auch einen Brief aus Bangkok. Darin kündigte Wilai ihr weitere Mädchen an, die „jede Arbeit machen“ könnten, um viel Geld zu verdienen.

Doch Nong und ihre deutschen Helfer kommen glimpflich davon: Das Gericht verurteilte sie nicht wegen „schweren Menschenhandels“, sondern wegen Zuhälterei – was als geringeres Delikt gilt. Keiner von ihnen mußte ins Gefängnis – Nong erhielt eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren, ihre zwei Partner bekamen ein Jahr sowie ein Jahr und neun Monate Haft zur Bewährung. Zwei Fahrer kamen mit einer Geldbuße davon.

Sang kehrte Ende Januar 1995 nach Thailand zurück. Anstatt sich still mit ihrem Schmerz und ihrer Scham zurückzuziehen, wie es die meisten Opfer tun, traf sie eine mutige Entscheidung. Sie zeigte Wilai an, jene Frau, die sie nach Deutschland gelockt hatte. „Ich wollte zunächst nur, daß sie sich bei mir entschuldigt“, erinnert sie sich. „Vor Gericht bringen wollte ich sie eigentlich nicht – sie hat zwei Kinder, der Mann ist ihr weggelaufen.“

Doch Wilai, eine schmale Frau Mitte Vierzig, machte einen Fehler: „Sie sagte mit keinem Wort, daß es ihr leid täte. Im Gegenteil: Sie beschimpfte mich, weil ich ihr Ärger gemacht hätte.“

Als Sang, unterstützt von der Bangkoker Stiftung für Frauen die Klage einreichte, war dies eine Ausnahme: Zwar gehört Menschenhandel neben Drogenhandel und Geldwäsche zu den großen Geschäften der organisierten Kriminalität. Zwar existieren in Thailand und in Deutschland strenge Gesetze, um ihren Hintermännern und -frauen das Handwerk zu legen. Doch von den thailändischen Frauen und Kindern, die in den letzten zehn Jahren Opfer von Menschenhändlern wurden, brachte niemand die Agentin oder den Agenten in ihrer Heimat vor Gericht.

Und auch die thailändische Justiz war zunächst nicht geneigt, den Fall aufzugreifen: Wenn es nach dem Bangkoker Staatsanwalt gegangen wäre, der den Fall zuerst in die Hände bekam, hätte der Prozeß gar nicht erst begonnen: Am Telefon beschwor er Siriporn Skrobanek von der Stiftung für Frauen, von einer Klage abzusehen. Seine Begründung: So ein Prozeß sei langwierig und kompliziert. Sang sei doch „in Deutschland schon Gerechtigkeit zuteil“ geworden. Erst auf Druck der nationalen Frauenkommission rollte das Verfahren an. Der widerstrebende Jurist wurde auf einen anderen Posten vesetzt.

Im Kriminalgericht von Bangkok versucht die Staatsanwältin derzeit zu beweisen, daß Wilai genau wußte, was mit Sang und den anderen jungen Frauen in Deutschland geschehen würde, als sie ihre Opfer ins Flugzeug setzte. Wilai aber beteuert ihre Unschuld. Sie sei von ihrer Bekannten in Berlin gemein getäuscht worden. Sie habe wirklich geglaubt, daß Sang und die anderen nur in der Küche arbeiten sollten. Wenn Wilai mit dieser Version durchkommt, wird sie bei der Ende des Jahres erwarteten Urteilsverkündung wohl mit einer kleinen Strafe wegen „unangemeldeter Arbeitsvermittlung ins Ausland“ davonkommen.

Für die Staatsanwältin und den bekannten Bangkoker Bürgerrechtler und Armenanwalt Thongbai Thongbao, der Sang vor Gericht vertritt, wird es schwierig werden, den Richter vom Gegenteil zu überzeugen. „Dafür müßte er Zeugen aus Deutschland laden“, sagt Thongbai. Daß der Richter zögert, ist nicht überraschend. Menschen über die Grenzen zu verschachern ist simpel, Zeugen aus dem Ausland vorzuladen dagegen sehr mühsam.

Das Bangkoker Gericht müßte den Brief erst an das thailändische Justizministerium schicken. Von dort würde er ans Außenministerium weitergeleitet, das ihn zum deutschen Außenamt in Bonn sendet. Dieses übermittelt ihn an das Justizministerium, und dann erst landet er im Briefkasten des Zeugen. „Das kann schon mal acht Monate oder sogar ein Jahr dauern“, sagt ein deutscher Jurist in Bangkok, „das ist ganz normal.“ Schneller ginge es nur, wenn sich Staatsanwältin und Gericht direkt an die KollegInnen in Berlin wenden könnten. Voraussetzung dafür wäre aber ein Rechtshilfeabkommen zwischen Thailand und Deutschland – und das ist nicht in Sicht. Dabei wären die Berliner Polizisten bereit, ihre Erkenntnisse auch dem thailändischen Richter zu unterbreiten. Doch ohne förmliche Vorladung dürfen sie nicht aussagen.

Die Gerichte in Thailand und Deutschland tun sich auch schwer, eine Anklage wegen „schweren Menschenhandels“ zuzulassen, weil solche Verfahren besonders teuer sind – Flug- und Hotelkosten für Zeugen aus dem Ausland können schnell viele tausend Mark verschlingen. Dazu kommen beträchtliche Gebühren für die Übersetzung von Dokumenten. Wenn Sangs Anwalt nicht von unbürokratischen Frauenorganisationen in Bangkok und Berlin unterstützt würde, säße er ohne die Prozeßakten aus Deutschland da. Thongbai: „Das ist keine gute Voraussetzung, um das Gericht davon zu überzeugen, daß Wilais Verbrechen mehr als ein Verstoß gegen die Arbeitsvermittlungsgesetze ist.“

Sang, die Thailänderin vom Mekong, versteht wenig von dem, was in Bangkok vor sich geht. Sie versucht, ihr Leben zu ordnen. Wenn das Kind geboren ist, wird sie einen Imbißstand aufmachen. Seit sie elf Jahre ist, hat sie das Geld für ihre Familie verdient – als Rikschafahrerin, Köchin, Altenpflegerin, Hausangestellte. „Als ich nach Deutschland fuhr, wußte ich, daß viele Thailänderinnen dort freiwillig oder gezwungen als Prostituierte arbeiten“, sagt sie. „Aber ich dachte, das kann mir nicht passieren. Ich wollte nur einmal Glück haben.“

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