: Jungbrunnen Fernsehen?
Jeder dritte TV-Gucker sieht alt aus. Doch forever young kommt es aus dem Programm. Kein Problem? ■ Von Christoph Schultheis
Neulich auf dem Lerchenberg, (Kongreßgebäude 1. Stock): Babbelnd drängelt sich eine hessische Seniorenbesuchergruppe vor den ZDF-Toiletten und versperrt den Weg zur Kantine. „Ei, unsre neue Liebling habbe se aach net vergesse!“ höhnt da die lustige Landfrau und weist mit dem Kopf auf eines der Fotos zu aktuellen TV-Produktionen, die der Mainzer Sender in den Gang gehängt hatte. Und der „neue Liebling“ ist nicht etwa Johannes B. Kerner (33), sondern: Guildo Horn (43).
Ebenfalls neulich auf dem Lerchenberg, allerdings ein Stockwerk tiefer, hatte das ZDF zu den Mainzer Tagen der Fernsehkritik geladen. „Jugendwahn und Altersängste?“ stand hinter dem Podium zu lesen, auf dem zwei Tage lang 44 ausgewählte Fernsehzuschauer über „Kommunikation in der Zielgruppengesellschaft“ diskutierten: Fernsehplaner, Fernsehkritiker, Mediaplaner, ein Bundespräsident (s. Kasten) sowie Werbe-, Blatt- und Fernsehmacher (davon ein Drittel Frauen – aber das Thema „Weibsbilder und Televisionen“ war ja bereits im vergangenen Jahr verhandelt worden...), die es mit einem Durchschnittsalter von 48,3 Jahren soeben noch selbst in die vielzitierte Kernzielgruppe der 14- bis 49jährigen schafften und daher gut reden hatten.
Unter ihnen die TV-Promoterin (und zweifellos als von allen bestgekleidete) Heike-Melba Fendel (36). Gerade hatte sie noch einmal auf den unleugbaren Tatbestand hingewiesen, daß der durchschnittliche Fernsehzuschauer immer älter werde, um sogleich hinzufügen zu müssen, daß dies „keine Besorgnis, sondern eine Beobachtung“ sei. Und derweil das Fragezeichen im Mainzer-Tage-Titel wohl nur für den Intendanten (63) hinter die beiden Schlagworte gesetzt worden war („damit er“, wie Wolfgang Menge (74) mutmaßen durfte, „nicht erschrickt“), möchte man Fendels Besorgnisverweigerung doch nur allzugern in Zweifel ziehen: keine Besorgnis? Keine?
Schließlich verhält es sich mit den alternden Zuschauern doch wie mit der Seniorengruppe im ZDF-Flur: Dichtgedrängt, orientierungslos und unbeweglich verstellen sie den Weg. Den Weg hin zu neuen Ufern, neuen Formaten, ins nächste Jahrtausend. Wer in seinem Falkenauer Forsthaus auf einem mit Rücklagen und Sparstrümpfen gepolsterten Sofa sitzt oder von der Altenpflegerin im Rollstuhl vors plärrende Gemeinschaftsgerät gekarrt wird, sieht jeden Tag knapp vier Stunden fern, am liebsten öffentlich- rechtlich und am allerliebsten „Wetten, daß ...?“, Fußball, „ZDF- Fernsehgarten“ und Reinecker- Krimis. Sofern er nicht vorm Fernseher einschläft.
Lifta-Treppenlifte sollen die Falkenauer kaufen bzw. Granufink und für die Enkelkids Lachgummi und Valensina im Haus haben. Und sie tun's. Wie sollte so ein Rentner da vom Fernsehen ernster (oder anders wahr-)genommen werden als vorm Fernseher – also in Supermarkt, ICE-Großraumwagen, Wahlkabine oder wo sonst ihr wohlstandsbürgerlicher Konservativismus immer nur aufhält? Einerseits.
Andererseits gebärdet sich die Mattscheibe vielerorts weiterhin wie ein Jungbrunnen: Zwar sieht inzwischen jeder dritte Fernsehzuschauer alt aus, wenn er in die Röhre guckt – doch forever young schaut es aus ihr heraus, schielt das Programm, wo immer es drauf ankommt, an den über Fünfzigjährigen vorbei auf die Hedonistengeneration Golf.
Und die freut sich, wenn Sat.1, wie kürzlich geschehen, endlich seinen „Bergdoktor“ absetzt, weil zu viele Alte zuschauten; freut sich über innovative Übersee-Importe wie „NYPD Blue“, „Akte X“, „Ally McBeal“, „Verbotene Liebe“ und die „Harald Schmidt Show“ – die schließlich ohne das vielgeschmähte Zielgruppenphantom gar nicht erst das Licht der Fernsehwelt entdeckt hätten. Ebenso ein Dienst an der Kernzielgruppe ist es, daß Nivea Vital in den Werbepausen „für die reife Haut“ mit Pfirsich- statt Orangenhautpopo wirbt. Und seit Lancôme Isabella Rossellinis Gesicht ausmusterte, weil es 45 wurde, lächelt es gar für den Soap-Ausstatter H & M.
Gewiß, wenn Ex-Antipädagogin Katharina Rutschky (57) auf dem Mainzer Podium erklärt, die Jugend sei heutzutage „dümmer – hübscher, aber dümmer“, mag man ihr nicht widersprechen.
Hübsch dumm aber ist es, wenn die TV-Verantwortlichen im real existierenden Spätkapitalismus den Schwarzen Peter der Verdummung unisono der Werbeindustrie in die Schuhe schieben wollen. Zu Recht sorgte Klaus Kocks (46), Promo-Frontmann für VW (und demnächst für Schröder?) daher auf dem Lerchenberg mit seiner Bemerkung „Werbung macht die Talkshow platter? – Ein Kindermärchen!“ für Verwirrung: Wenn nicht einmal mehr die Werbung schuld ist am durchschnittlich überdurchschnittlich schlechten Fernseh-Output, wer dann? „Die Zuschauer!“ rief jemand aus dem Publikum.
Doch die nahende Jahrtausendwende hat auch die TV-Prognostiker erfaßt: War das Fernsehen bislang etwas für den „Bis-Neunundvierziger“, soll es schon bald den „Neunzehn-Neunundvierzigern“ gehören, jener Nachkriegsgeneration also, die sich so gern und oft zu einer anderen Jahreszahl bekennen: 68 nämlich. Weswegen man in Mainz aus der Nicht-mehr-Zielgruppe „Fünfzig plus“ flugs die Zielgruppe „Achtundsechzig plus“ machte.
Schon jetzt künden die sogenannten „neuen Alten“ euphemistisch als „Aktive Mitte“, „winning generation“ und „silver customers“ vom güldnen Zeitalter eines Seniorenfernsehens, das auf jeden Fall so nicht heißen wird. Doch wie jung die „jungen Alten“ (und später dann natürlich auch die alternden Jungen) tatsächlich einmal sein werden, wie spannend (Ex-)Sozialpädagogen-TV, das muß sich erst noch zeigen.
Neulich auf dem Lerchenberg war die Quintessenz denn auch eher dürftig: Subkutanes Qualitätsfernsehen hieß das ebenso hehre wie banale Ziel. Nicht minder hehr und banal jedenfalls als Guildo Horns Wille zum Grand Prix. Und der versammelte zwar wieder die ganze Family vor dem Fernseher, eine gleichermaßen integrierende Zukunft wird ihm (und uns) dennoch (und zum Glück) nicht vergönnt sein.
Und der Autor ist 31.
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