„Wir haben Häusle g'zählt“

Im schwäbischen Nürtingen arbeitet der BUND an einem Modell zur Energieversorgung aus regenerativen Quellen. Klimaschützer und Politiker ziehen nicht am selben Strang. „Visionen sind Illusionen“  ■ Von Volker Hasenberg

Klimaschutz heißt oft, vor drohenden Gefahren zu warnen. Untergangsbilder an die Wand zu malen liegt der BUND-Ortsgruppe Nürtingen jedoch fern. Im Gegenteil: Mit dem Projekt „Vision Solarstadt Nürtingen“ feilen sie an einem Modell, wie eine nachhaltige Energieversorgung für die 40.000 Einwohner zählende Stadt gemäß den Forderungen der Klimaforscher funktionieren könnte. Die Solarstadt, sagt Otmar Braune vom BUND, setze nicht auf Verzichtsstrategie oder unrealistische technische Lösungen. Statt dessen werde auf heute schon vorhandene Technik zurückgegriffen. „Wir sind so technikgläubig“, sagt Braune lächelnd, „daß wir von einer technischen Realisierbarkeit binnen 50 Jahren der heute schon möglichen, aber unwirtschaftlichen Solarstadt überzeugt sind.“

Um sich zunächst einen Überblick über den Energiebedarf Nürtingens zu verschaffen, mußten die Umweltschützer selbst Hand anlegen. Der BUND recherchierte den heutigen Verbrauch von Strom, Gas, Heizöl sowie Treibstoff. Die Potentiale regenerativer Energien, die vor Ort zur Verfügung stehen, wurden ebenfalls ermittelt. Die Vielfalt der nachhaltigen Energiequellen könne in Nürtingen nur bedingt genutzt werden, lautete das ernüchternde Ergebnis. Windenergie mache nur Sinn auf der nahe gelegenen Schwäbischen Alb. Zu klein seien die landwirtschaftlichen Betriebe für die Biogaserzeugung und zu gering der nutzbare Holzeinschlag aus Nürtinger Wäldern. Energetisch hochwertige Pflanzen als Biomasse anzubauen lehnt die Ortsgruppe ab. Freie Flächen sollten statt dessen dazu dienen, die Landwirtschaft auf den flächenintensiven ökologischen Landbau umzustellen.

Große Potentiale schlummern dagegen auf den Dächern. Bebauungspläne repräsentativer Stadtgebiete wurden in den Stadtbauämtern studiert, Häuser mit einem nach Ost-West ausgerichteten First erfaßt. „Eben Häusle g'zählt“, wie Otmar Braune auf gut schwäbisch sagt. Ergebnis: Etwa 21 Quadratmeter Dach- und Fassadenflächen, die solartechnisch nutzbar sind, stünden je Einwohner in Nürtingen zur Verfügung.

Um den Energiebedarf solar decken zu können, setzt die BUND-Ortsgruppe beim Verbrauch kräftig den Hobel an. 25 Prozent Einsparung beim Strom und 75 Prozent beim Verkehr werden vorausgesetzt. Letztgenanntes soll durch Einsatz von extrem sparsamen Elektromobilen und Brennstoffzellenautos ermöglicht werden. Altbauten seien auf den Stand der Wärmeschutzverordnung 1995 zu bringen. „Das ist nach Ansicht von Architekten möglich und könnte den Wärmebedarf mehr als halbieren“, meint Braune. Wolfgang Plickert, Inhaber eines Nürtinger Solarfachgeschäfts, führte einst bei einem großen Energieversorgungsunternehmen Wirtschaftlichkeitsberechnungen für Kraftwerksplanungen durch. Mittlerweile „vom Saulus zum Paulus gewandelt“ (Plickert), erstellt er ähnliche Kalkulationen für das Solarstadtprojekt.

Nach seinen Berechnungen kann die Sonnenenergie zwei Drittel des reduzierten Strombedarfs decken. So sieht das Konzept außerdem noch eine fünfprozentige Nutzung des Windpotentials der Schwäbischen Alb und ein zentrales Gas-und-Dampf-Heizkraftwerk (GuD) vor. „Rein rechnerisch wäre der Strombedarf so gedeckt“, sagt Plickert, „jedoch entstünden starke Stromschwankungen.“ Ausgleichs- und Anpassungsmaßnahmen könnten nur in und mit einem europäischen Stromverbund realisiert werden. Kleinstaaterei mache keinen Sinn.

Für warme Wohnstuben und heißes Wasser könnte zukünftig ebenfalls zu fast zwei Dritteln die Sonne sorgen. Das Überangebot im Sommer sollte nach schwedischem Vorbild mit großen Wassertanks, welche die Wärme monatelang bis in den Winter speichern können, aufgefangen werden. In weiträumigen Wohngebieten, wo solche solaren Langzeitwärmespeicher nicht einsetzbar sind, schlägt der BUND vor, weiterhin mit Erdgas oder solar erzeugtem, flüssigem Methanol zu heizen. Ein Teil des Gesamtwärmebedarfs decke auch das GuD-Heizkraftwerk.

In Nürtingen und unter den Umweltverbänden in der Stuttgarter Region hat sich die BUND- Ortsgruppe mit ihrer „Solarstadt“ einen Namen gemacht. „Auch wissenschaftliche Institute zeigen an unserer Arbeit großes Interesse“, erzählt Otmar Braune, „weil wir in unserer Vision neue wissenschaftliche Studien in leicht verständliche Sprache übersetzt haben.“ Angeregt durch das Projekt, entschied sich die Universität Hohenheim, ein Forschungsvorhaben zum Klimaschutz in Nürtingen zu starten. Demgegenüber will die Nürtinger Stadtverwaltung samt Stadtoberhaupt von alledem nicht sonderlich viel wissen. „Visionen sind Illusionen“, meint dazu der Oberbürgermeister.

„Vision Solarstadt Nürtingen“. 16seitige Broschüre, 6 Mark in Briefmarken (incl. Porto), BUND- Ortsgruppe Nürtingen, In den Rehwiesen 19, 72622 Nürtingen