Robustheit der Normalität

■ Ein Preis für Swetlana Alexijewitschs literarisch-dokumentarisches Tschernobyl-Requiem

Swetlana Alexijewitschs „Tschernobyl“- Requiem gehört zu den Büchern, bei denen der Körper des Lesers sich selbstständig macht: Der Kiefer beginnt haltlos zu zittern; Körperflüssigkeit schießt in die Augen, der Magen will seinen Inhalt nicht halten. Nun kann einem das, bei einer gewissen Anfälligkeit für Psychosomatik, auch bei den modernen Courths-MalerInnen passieren. Daß die russische Autorin heute in Bremen den Friedrich-Ebert-Preis für ihr Buch kriegt, hängt wohl eher damit zusammen, daß man nach der Lektüre haltlos anfängt, seiner fünfjährigen Tochter etwas von „Atomkraftwerken“ und so zu erzählen.

„Sterben auch Kinder?“ „Ja, auch die Kinder sterben.“ Viele Kinder und viele Männer sterben in Swetlana Alexijewitschs „Chronik der Zukunft“, in den 34 Monologen und drei Chören aus Weißrußland 'nach Tschernobyl'. Das mag nicht weiter bemerkenswert sein, in vielen Büchern und Fernsehfilmen sterben Kinder – das Grausame ist, daß zwischen Autorin und Tod die Monologe der Mütter stehen. „Alle Mütter weinen in den Toiletten, im Bad, nicht in den Zimmern. Wenn ich zu ihm ins Zimmer zurückkehre, bin ich wieder fröhlich. 'Du hast ja schon ganz rote Wangen. Du wirst bald gesund.' 'Mamotschka, hol mich hier raus. Ich sterbe hier. Alle sterben hier'.“ So ist das in jenem sterbenden Land, wo man sich erzählt, daß es im Jahr 2000 keine Weißrussen mehr geben wird. Jenem Land, in dem die Toten den Lebenden gleichwertig sind: „Das Kind wurde tot geboren. Zwei Finger fehlten an der Hand. Ein Mädchen. Ich habe geweint. Wenn es wenigstens alle Finger gehabt hätte. Es ist doch ein Mädchen ...“

1986 explodierte die Bombe Tschernobyl, doch nie endete in Weißrußland die Normalität. Nur daß das Leben seitdem Sterben heißt: „Wenn ich sie zu Bett brachte, flüsterte sie mir ins Ohr: 'Papa, ich möchte leben, ich bin doch noch so klein.'“ Mit dem 6. August 1945, schrieb Günther Anders, sind wir „im modo negativo allmächtig“ geworden oder vollständig ohnmächtig. Eine Ontologie nach Hiroshima: Wir sind umgekehrte Utopisten geworden – während Utopisten dasjenige, was sie sich vorstellen, nicht herstellen könnten, „können wir uns dasjenige, was wir herstellen, nicht vorstellen“. Auch nach Tschernobyl nicht: Die Liquidatoren auf dem Dach des zerfallenden Reaktors, die in das strahlende Kühlwasser tauchen und die Erde aufrollen wie einen Moosteppich immer wieder neu – und fischen gehen und jagen, die Frauen, die allein in ihre Häuser zurückkehren (nachts, kriechend, an den Milizen vorbei) und sich neben ihre Männer legen, staunende Kinder: „Wenn sie sterben, liegen sie mit ganz erstaunten Mienen da.“

Immer wieder Anklänge einer slawischen Anthropologie, ein Geraune von Hingabe und Schicksalsergebenheit, von der die Autorin nicht ganz frei ist. Als käme in Weißrußland nach Tschernobyl der Slawe zu sich selbst: „Im tiefsten Innern sind wir alle Fatalisten und keine Apotheker. Keine Rationalisten, slawische Mentalität.“ Als hätte die Welt nicht auch hier ihre Anders'sche Volte gemacht und den Fatalismus als Seinsmodus festgeschrieben.

Das Buch von Swetlana Alexijewitsch ist gräßlich. Ein Buch, in dem es nur Opfer gibt – „wer schuld ist“, interessiert ausdrücklich nicht. Aber in Weißrußland nach Tschernobyl kann man das wohl so sehen: „Vielleicht ist alles ganz einfach: auf Zehenspitzen in die Welt gehen und an der Schwelle stehenbleiben?“

Ihren Preis kriegt die Autorin heute im Bremer Parkhotel. Unter Ausschluß der Öffentlichkeit. ritz Berlin-Verlag, 1997