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Erhabenheit und Polizei

Geheimrat Goethe wird in Rom bespitzelt: Hanns-Josef Ortheils Roman „Faustinas Küsse“ als Spiegelkabinett über Projektionen ruinensüchtiger „Nordmenschen“  ■ Von Jan Koneffke

Goethe ist sieben Tage in Rom, als er am 7. November 1786 notiert: „Gestehen wir es jedoch, es ist ein saures und trauriges Geschäft, das alte Rom aus dem neuen herauszuklauben.“ Andere „Nordmenschen“, wie sie Hanns-Josef Ortheils Romanheld Giovanni Beri wegwerfend bezeichnet, die zu dieser Zeit in Rom auf klassischer Bildungsreise sind, beschweren sich bitter, am Forum Romanum ließe man Ziegen und Schafe weiden und im Septimius-Severus-Bogen betriebe jemand seinen Laden. Aus seinem beschaulichen Weimar hat es Goethe in eine von Wilden bewohnte Stadt verschlagen. An seinen „Naturmenschen“ vermißt er Erhabenheit und in seiner „Welthauptstadt“ Polizei: Erhabenheit und Polizei bilden ein treues deutsches Paar. Es wird Faustina zu danken gewesen sein, wenn Goethe am Ende sinnlichere Erfahrungen mit ins heimische Weimar nahm.

Von ehemaligen Villa-Massimo-Stipendiaten war man, mindestens seit Rolf Dieter Brinkmann, eine scharfe Abrechnung mit Rom gewohnt. Brinkmann etwa fand Rom zu schmutzig, und an seinen Bewohnern vermißte er Ernsthaftigkeit und Strenge, nicht anders als sein ferner Dichtervorfahr. Dies alles mag Hanns-Josef Ortheil, ein anderer Ex-Villa-Massimo-Stipendiat, im Kopf gehabt haben, als er seinen Roman „Faustinas Küsse“ entwarf.

Um den Projektionen der „Nordmenschen“ auf eine lebendige und wirkliche Stadt den Spiegel vorzuhalten und sie als Projektionen kenntlich zu machen, bedient er sich eines raffinierten Perspektivwechsels. Mag der Held von „Faustinas Küsse“ der von uns allen verehrte Geheimrat aus Weimar sein – Erzähler in seinem Roman ist ein kleiner römischer Tunichtgut, der von Tag zu Tag und von der Hand in den Mund lebt und vom Kofferträger des frisch eingetroffenen Fremden zu seinem Schatten wird, genauer: zum Spitzel für den Vatikan, dem dieser unter falschen Namen abgestiegene, mal als „Baron“, mal als „Geheimrat“ bezeichnete Mann aus Deutschland eine sorgsame Observation wert ist.

Horchen, Greifen, Staunen

Kein Schuft, der augenblicklich „Stasi“ denkt. Ortheils Anspielungslust rechnet mit dieser Assoziation. Und Giovanni Beri, der etwas Lebensklugheit und mehr Lebensfreude besitzt – was man seinen verbissenen Nachfahren von „Horch und Greif“ nicht nachsagen kann –, wird am Anfang aus seinem „Objekt“ nicht besonders schlau. Ortheil beschert uns ein reizendes Spiegelkabinett. Denn dieser Herr aus Weimar kann sich vor Staunen angesichts seiner „Welthauptstadt“ nicht retten, und sein Schatten kann sich vor Staunen vor diesem Staunen nicht retten. Er nimmt am „Nordmenschen“ eine Aufregung wahr, die nicht zu rechtfertigen ist. Und Beris Staunen wird zu Mißlaunigkeit, wo er im fremden Auge nichts als Interesse an Ruinen blinken sieht.

Beinahe bekommt Ortheils herrliche Idee einer Spiegelung des Staunens seinem Roman nicht. Beris Beobachtungen werden permanent mit Ausrufezeichen versehen! Das entspricht seinem mangelnden Wissensgrad vom exaltierten „Nordmenschen“, einer Mißlaunigkeit, die sich einschleicht, wo der, der zu Hause ist, es nicht versteht, was der, der fremd ist, nicht versteht. Allerdings macht Beris zu bloßen Außenwahrnehmungen verurteilte Beschreibung bald auch den Leser mißlaunig.

Man will beinahe aufgeben, als Ortheils Roman wirklich in Fahrt kommt. Sein Erzähler Beri, der inzwischen weiß, mit wem er es bei seinem Observationsobjekt zu tun hat, beginnt Goethes „Werther“ zu lesen. Seine Leseerfahrung, Erfahrung eines naiven und mit praktischem (römischem) Sinn begabten Lesers, bricht sich am protestantischen Tiefsinn und romantischen Liebesleid. Beri haßt Werther in seiner Entschlußlosigkeit: „Verlobt hin oder her, wenn dieser Werther sie (Lotte) wollte, so gab es nichts zu seufzen und nichts zu schmachten, er mußte sie nehmen, rasch, sie würde schon wollen!“

Beri wird, Schicksal eines Beschatters, im Laufe seiner Observation zum wahren Schatten seines Objekts. Ortheil betreibt sein Spiel der Spiegelungen bis zum Rollentausch Beris mit Goethe, wenn sie zusammen am Karneval teilnehmen und Goethe seine Fremdenkleidung mit Beris Maler- und Zeichnerattributen vertauscht. Beri wird zum Fremden in seiner Stadt.

Dem ist eine innere „Ver“- Fremdung vorausgegangen. Denn Beris Geliebte Faustina – er lernte sie beim Brotschneiden kennen, nicht anders als Werther seine Lotte – ist zum deutschen Dichter desertiert. Und Beri, der bislang vollmundig Roms Frauen pries, die sich nichts vormachen lassen und nehmen, was sie bekommen, sieht sich unversehens zum Werther schrumpfen, der, an Weltschmerz krank, ums frischgebackene Liebespaar herumschleicht. Goethe, dem er römische Sinnlichkeit beibringen wollte, erweist sich als gelehriger nordischer Besen und Beri als blasser Zauberlehrling.

Heiter entstellte Reiseliteraturliteratur

In Ortheils Buch herrscht kein Mangel an Luft und Leichtigkeit. Es ist fein erdacht, es verwirbelt eine Tradition, die reichlich verstockt und verbiestert ist. Ortheil verwandelt sich Motive aus Goethes „Italienischer Reise“ an und entstellt sie zu erheiternder Kenntlichkeit. Sein Roman ergibt einen ironischen Kommentar zum Bericht des Herrn Geheimrats, ist im besten Sinne Literaturliteratur. Manches, was eher zum Konservationsstoff taugt, wird im Spiel der sich spiegelnden Fremdheiten – am Ende kehrt Beri als Fillipo Miller, was Goethes falscher Name war, in seine Stadt „heim“ – zur lebendigen Einzelheit.

Allerdings bleibt Ortheils Spiel letztlich ein Spiel mit Ressentiments und Projektionen, die nichts vom Fremden wissen. Sein Giovanni Beri tritt, als „Gegen-Nordmensch“, nie aus Goethes Schatten. Wir erfahren fast nichts von seinem Liebesleben mit Faustina. Und auch wenn Goethe seine intimen Stunden erlebt, bleiben die Leser außen vor. Ortheils Perspektive, Goethe mit Beris Augen zu folgen, erlaubt es nicht anders.

Hanns-Josef Ortheil: „Faustinas Küsse“. Luchterhand Verlag, München 1998, 350 Seiten, 42 DM

Hanns-Josef Ortheil liest heute, 20 Uhr, im Buchhändlerkeller Berlin

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