: „1845 sind hier die Deiche gebrochen!“
Runde Tischgespräche in Wilhelmsburg rund um den Kreetsander Deich ■ Von Heike Haarhoff
Das Tischkärtchen namens „Schlatermund“ wartet vergeblich auf seine Bezugsperson. Der Wilhelmsburger Deichvogt wird am Dienstag abend nicht erscheinen. Stellvertretend für ihn und den Deichverband keift eine CDU-Vertreterin des Ortsausschusses durch den Saal des Wilhelmsburger Bürgerhauses, daß „alle Argumente ausgetauscht“ seien und „wir demnächst die Erhöhung des Kreetsander Hauptdeichs beantragen“. Denn: „Wir wollen nicht, daß Wilhelmsburg absäuft.“
Dann schickt auch sie sich an, den Runden Tisch zum Für und Wider des möglichen Rückbaus des Kreetsander Hauptdeichs zu boykottieren. „Hören Sie sich doch erstmal an, was die Experten zu sagen haben“, ruft ihr Hauke Schröder von der GAL hinterher.
Die Angst der Anwohner, Bürgerinitiativler und Politiker vor unsicheren Deichen sitzt tief. 315 Menschen aus Hamburg ertranken in der Sturmflut von 1962; die meisten von ihnen lebten auf der Elbinsel Wilhelmsburg. In diesem Jahr soll entweder der bestehende, 2,7 Kilometer lange Kreetsander Hauptdeich erhöht oder alternativ um einige Meter ins Landesinnere versetzt werden – 16 Hektar ökologisch wertvolles Deichvorland würden so entstehen. Doch nur im Einvernehmen mit der Bevölkerung wird rückgedeicht, das hat Hamburgs rot-grüne Regierung versprochen und zu diesem Zweck ein „Mediationsverfahren“ angestrengt, in dem Gerhard Albert von der Planungsgruppe Ökologie + Umwelt Nord an diesem Abend zum dritten Mal zwischen Befürwortern und Gegnern vermittelt.
Einen dreiseitigen Fragenkatalog zu Hochwasserrisiken hat der Runde Tisch in den vorigen Sitzungen erarbeitet; die beiden eingeladenen externen Deichbau-Sachverständigen, Gerd Flügge von der Bundesanstalt für Wasserbau sowie Jürgen Rechtern vom Ingenieurbüro Steinfeld und Partner, werden sie geduldig beantworten. Sie versichern, daß nicht allein die Höhe, sondern vor allem die Baustoffe und die Standsicherheit des Deichs ausschlaggebend sind für den Flutschutz. Zwar sei es richtig, daß ein neuer Deich – je nach Mächtigkeit – zwischen ein paar Monaten und Jahren brauche, um sich zu setzen. Das sei aber kein Grund zur Beunruhigung: „Weil wir das wissen, bauen wir den Deich überhöht“, sagt Flügge. Und Rechtern beteuert: „Ein neuer Deich wird so gebaut, daß er sofort standsicher ist. Das ist so wie bei einem neuen Haus: Das setzt sich ja auch, und trotzdem ziehen Sie nicht erst nach einem halben Jahr ein.“
Doch die Überzeugungsversuche, daß die Rückdeichung keine größere Gefahr für Menschenleben darstellt als die Erhöhung des alten Deichs, fruchten nicht bei denen, die aus Prinzip sowieso jeden neuen Deich ablehnen. Sie ignorieren die Aussagen der Wissenschaftler mit einer Sturheit, die vermeintlich auf Lebenserfahrung beruht: „1845 sind hier die Deiche gebrochen! Das ist Tatsache!“
Da hilft es auch nichts, daß Gerd Flügge vorrechnet, daß heutzutage eine längere Deichlinie das Risiko des Deichbruchs ebensowenig erhöhen wie die Strömungsverhältnisse verändern würde. Die Rückverlegung wäre mit 8,2 Millionen Mark Kosten sogar günstiger als die 9,1 Millionen teure Erhöhung.
Henry Seeland, der „Wilhelmsburger Bürger und parteilos“ ist und „also eine eigene Meinung haben darf“, kümmern die Sachargumente einen feuchten Kehricht. „Ich“, behauptet er, „habe von der Versicherung Allianz in München bestätigt bekommen, daß das Risiko des Deichbruchs hinter einem neuen Deich achtmal höher ist als hinter einem alten.“ Können wir uns nicht vorstellen, zweifeln die Sachverständigen. Die Versicherung in München indes vermochte sich am Mittwoch gegenüber der taz „an eine solche Anfrage“ nicht zu erinnern.
Eine Einigung gibt es an diesem Abend nicht. Wie es weitergehen soll, weiß daher niemand genau. In jedem Fall muß der Senat bis Ende September eine Deich-Entscheidung treffen. Danach erfolgt das Planfeststellungsverfahren. Ab dem Frühjahr 1999 wird entweder erhöht oder verlegt, so daß spätestens im Herbst 1999 zur Sturmflutperiode der Hochwasserschutz in Wilhelmsburg einwandfrei ist.
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