■ Wochenendaktivitäten im Berliner Zoo: Partylöwen im Haifischbecken: Aquarische Nacht
Der heimliche Held des Abends ist die Wurzelmundqualle. Da können sich die Sambatänzerinnen noch so anstrengen, schweißglänzende Haut und verrutschende Unterwäsche zeigen: Vor azurblauem Hintergrund tanzt die Qualle unbeeindruckt ihre Kür. Blau, das saugt jeder Screendesigner mit der Muttermilch ein, wirkt auf uns Menschen wie Freibier. Trunken inhalieren denn auch schwankende Menschenpärchen die punktene Schwerelosigkeit der Qualle. Als versuchte ein gläserner Fliegenpilz, vor seinen blumenverkohlten Wurzeln zu fliehen, sich kurz mit ihnen anzufreunden und wieder zu fliehen. Das Nähe-Distanz-Problem als zeitlos wabernde Metapher, mitternachts, im Zoo-Aquarium. Die Fische haben zur aquarischen Nacht geladen, mit Live-Bands und DJ Chris.
Plötzlich ändert sich der akustische Code: Die Sambada-Klänge des Trio Palmera werden fortgespült von mächtigen, treibenden Schallwellen. Der dunkle, von tropischem Licht umbrandete Dancefloor pendelt hektisch-zappelnd hin und her; nur die Fische bleiben cool, bei 14 Grad im Schatten; vom Geschehen so unberührt wie notorische Nichttänzer, die sich zur Lebensphilosophie gemacht haben: Cowboys tanzen nicht! Abschätzend sitzen sie am Rand, teilnahmslos scheinbar. Doch hinter diesen Aufreißertypen ziehen gullideckelgroße Piranhas vorüber, die noch hundertmal gelangweilter aussehen. Über dem Kopf des gewissenlosesten Nachtschwärmers kreisen Haie, von denen er noch einiges lernen könnte: zum Beispiel gefährlich, aber gut, schlank, aber kraftvoll zu wirken.
Sowieso lassen die Gastgeber ihre Gäste hier eher alt aussehen: Der geckenhafte Auftritt des Prachtkopfstehers in einem Fummel von Anostomus Anostomus kontrastiert wirkungsvoll mit dem hämischen Underdress des Schlammspringers, ganz im kühnen Schnitt des Designgenies Periophthalmus Barbarus. Die feenhafte Überheblichkeit der Kompaßqualle, diesjähriges Topmodel bei Chrysaora Metanaster, kokettiert aufs schrillste mit der geheimnisvollen Fluoreszenz der Dickhörnigen Seerose, farblich der letzte Schrei in der Herbstkollektion der göttlichen Voticina Felina.
Die Gäste hingegen: Als hätten sich einige wenige Jungfreaks in kurzen, zu weiten Hosen an ihren langen Haaren von touristisch ambitionierten Eltern in den Untergrund verschleppen lassen. Vom Ku'damm hinabgespült. Mit einer Ausnahme: Der Herr in Schwarzweiß ist vielleicht der einzige, der genauso cool ist wie die Fische. Weil er ihnen ebensowenig Aufmerksamkeit schenkt wie sie ihm.
Die Rhythmen von Terra Brasilis injizieren Tropfen der Trance in die Gemüter. Mehr als ein Dutzend weißgekleidete Trommeln hämmern und stampfen. Die menschliche Masse findet zu ihrer langsamen, gezeitenhaften Bestimmung. Doch an die unbeirrte Leichtigkeit der Wasserwesen reichen nur jene heran, die sich ihnen ganz hingeben, versunken durch die oszillierenden Farben gleiten und staunen. Partybesucher in kontemplativer Andacht.
Wieder ändert sich der akustische Wellenschlag: Einer trägen Flutwelle gleich, schwellen Töne an, die sich in die Grotten und Becken ergießen. Ein Schwarm tiefer Sonanzen wogt durch das Aquarium, ändert wummernd seine Richtung. Zerfetzte Quallen ziehen unendliche Fäden hinter sich her. Wie rohe, ins heiße Wasser geschlagene Eier. Lebende poached eggs, hilflos der Strömung ausgesetzt. Oder doch nicht? Wer sie lang genug beobachten könnte, dem würde die Malayenqualle offenbaren, ob Determination oder freie Selbstbestimmung die Urkraft des Universums sind.
„Wir müssen wegen der Fische jetzt langsam Schluß machen!“ Die Brandung der Didgeridoos ebbt ab, La Onda Mystica verstummt. Mit einer lässigen Maulbewegung schnappe ich nach dem Kakerlak, der gerade über mir auf einem Blatt saß, und lasse mich hinaustreiben. Andreas Leipelt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen