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Rehabilitation der Frauen

■ Großer Bahnhof für die Premiere von Hans Werner Henzes Ballett-Oper „Boulevard Solitude“ in Bremerhaven

Der Auftakt ist furios: Während das Publikum ins Parkett strömt und allmählich die Plätze einnimmt, während allenthalben geplaudert und gegrüßt wird, während die Musiker ihre Instrumente einstimmen, sind auf der offenen Bühne Bahnhofsgeräusche zu hören – da sammeln und zerstreuen sich Reisende unter einer weit ausladenden Stahlkonstruktion, die an einen der großen Pariser Bahnhöfe denken läßt. (Das Bild von Petra Mollerus wird später mit wenigen Lichtwechseln stimmig in alle anderen Räume verwandelt.)

Hans Werner Henzes Ballett-Oper spielt Anfang der 50er Jahre. Damals saß der junge Komponist mehrere Wochen in Paris und saugte während der Arbeit an seiner ersten abendfüllenden Oper die Spannungen der Zeit und des Ortes mit höchster Neugier auf: Jazz und die Zwölftonmusik, Sartre und Genet, Cocteau und Billy Wilder. „Boulevard Solitude“ ist die Geschichte einer amour fou nach Motiven des Romans „Manon Lescaut“ von Abbe Prevost. Henze nimmt es wagemutig mit prominenten Vertonungen auf. Aber er entfernt sich weit von Massenet und Puccini.

Auf seinem Boulevard der Einsamkeit herrscht eine kühle Melancholie, die der Stil-Melanche aus Jazz und Zwölftönigkeit, aus rhythmischer Kraft und zarter Lyrik eine erstaunliche Geschlossenheit gibt. Der junge Dirigent Peter Aderhold holt aus dem bestens aufgelegten Städtischen Orchester alle Leich-tigkeit und Frische dieser Musik heraus.

Bremerhavens Ballett-Chef Ricardo Fernando hat in seiner ersten Opern-Regie eine undankbare Aufgabe zu lösen: Die Geschichte des armen Studenten Armand, der sich schlagartig und unsterblich in die schöne Kurtisane Manon verliebt, wird zugleich getanzt und gesungen. Geschickt trennt Fernando das tanzende vom singenden Paar. Carla Silva und Tom Baert haben für ihren wild-erotischen Pax de deux die ganze Bühne zur Verfügung, während Eun-Joo Park und Martin Mühle sich auf einer höhergelegenen Galerie begegnen oder vor dem heruntergelassenen transparenten Vorhang singen.

Als Mittler zwischen beiden Welten agiert der weiß maskierte Tänzer Bruno Mora. Mal spielt er slapstickhaft den stummen Diener des fetten Kavaliers Lilaque de pere (Burkhard Fritz), mal umtänzelt er Manon oder Armand. Und schließlich ist er Todesengel. Er drückt Armand jene Waffe in die Hand, mit der Manon ihren reichen Liebhaber bedroht.

Die Stärke des Ballettchefs liegt in der grotesken Überspitzung, mit der er Manons dealenden Zuhälter-Bruder Lescaut (stimmlich und spielerisch überzeugend: Oscar Quezada) und den reichen Geldsack zeichnet. Das sind skurrile Figuren in witzigen Szenen, die dennoch nicht in die Klamotte umkippen.

Aber Armands verzweifelte Einsamkeit angesichts der unbegreiflichen Manon muß Fernando kalt gelassen haben. Henze und seine Librettistin Grete Weil wollten mit ihr den „Erdgeist“ zeigen, „der in seiner Triebhaftigkeit den ihm verfallenden geistigen Menschen zugrunde richtet.“ Fernando zeigt dagegen mit dem tanzenden Paar Bilder der Zweisamkeit, auch dort noch, wo ein Gefängnisgitter die beiden trennt. Sie hängen an den Gittern wie zwei Liebende, die sich nicht erreichen können.

So verrät die tanzende Manon, was die singende verleugnet: Diese Frau ist ebenso leidensfähig wie dieser Mann. Fernandos Regie erhebt lautlos Einspruch gegen Henze. Daß für den schwer erkälteten Martin Mühle am Premierenabend der Bremer Tenor Uwe Eikötter im Orchestergraben sang, während Mühle den gequälten Armand auf der Bühne – mit bewegten Lippen – nur stellen mußte, war bei aller unfreiwilligen Komik ein Glücksfall. Eikötters warme, kräftige Stimme und seine gestochen scharfe Artikulation (die andere vermissen ließen), würde man sich weiterhin für diese Rolle wünschen.

Hans Happel

Weitere Vorstellungen: 4., 9., 12., 26. Juni; 1. Juli

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