Die polizeilichen Scheuklappen sind gefallen

Das Verhältnis der Polizei zu Kindern hat sich deutlich verändert. Ein sensibler Umgang ist wichtiger als unbedingte Tataufklärung. Polizei arbeitet auch mit Organisationen wie „Wildwasser“ besser zusammen. Kinder akzeptieren Polizei eher als Erwachsene  ■ Von Plutonia Plarre

Bei manchen Einsätzen geraten selbst hartgesottene Polizisten in Wut. Vergangenen Freitag befreite die Besatzung eines Streifenwagens in Neukölln ein zweijähriges Mädchen aus einem in praller Sonne geparkten Toyota. Ein Passant war auf das Kind aufmerksam geworden, das seit mindestens einer halben Stunde mit hochrotem Gesicht im Wagen saß und schrie. Trotz einer Außentemperatur von 29,2 Grad war nur ein Fenster einen Spaltbreit geöffnet. Nachdem sie das Kind halbwegs beruhigt hatten, machten sich die Beamten auf die Suche nach den Eltern. Es verging noch eine halbe Stunde, bis sie in einem Kaufhaus fündig wurden. Mit Hilfe von Lautsprecheransagen gelang es, den Vater in einer Abteilung für Unterhaltungselektronik aufzustöbern.

In Berlin vergeht kein Tag, an dem Polizei und Kripo nicht mit Kindern befaßt sind. Allein im vergangenen Jahr kamen 1.200 Fälle von sexuellem Mißbrauch an Mädchen und Jungen bis zum vollendeten 13. Lebensjahr zur Anzeige. 800mal mußten die Beamten wegen Verdachts der Kindesmißhandlung ausrücken. Die Beamten bekommen bei ihrem Ermittlungen das geballte Elend zu Gesicht. Nicht selten werden sie zu Tatorten gerufen, die keine Wohnungen, sondern „tapezierte Bombentrichter sind“, sagt der für Delikte an Kindern zuständige Kripo-Inspektionsleiter Jörg-Michael Klös. Wie tief die Verletzungen der kindlichen Seele sind, lasse sich nur erahnen. „Wir müssen unsere Emotionen zurückzuhalten. Aber es gibt Situationen, da wird einem einfach übel.“

Was die Arbeit der Kripo mit den Kindern angeht, ist der auf 27 Dienstjahre zurückblickende Klös davon überzeugt, daß sich in den letzten Jahren ein großer Wandel vollzogen hat. „Früher galt: Die Polizei darf alles.“ Heute gehe es in erster Linie darum, dem Opfer zu helfen. „Keine Tataufklärung um jeden Preis, wenn dies auf Kosten des Opfers geht“, beschreibt der Inspektionsleiter sein Credo. Er verweist nicht ohne Stolz darauf, daß seine Leute mittlerweile mit den Jugendämtern, freien Trägern und Organisationen wie Wildwasser „Seite an Seite arbeiten“. Die Scheuklappen seien gefallen, „vor allem auch auf seiten der Polizei“.

Klös' Crew besteht aus 110 „handverlesenen, erfahrenen“ weiblichen und männlichen Sachbearbeitern. Sexuell mißbrauchte Mädchen würden grundsätzlich von Kripobeamtinnen vernommen, Jungs aufgrund „der Vorliebe für eine eher kumpelhafte Art“ überwiegend von Männern. Die Inspektion verfüge über ein mit viel Spielzeug und einem Kicker ausgestattetes Kinderzimmer und eine Kinderbetreuerin. Kaum ein Kind verlasse die Räume, ohne etwas geschenkt bekommen zu haben. Auch was das Verhältnis der Kinder zu den Beamten angeht, hat Klös ein gutes Gefühl. In der Regel faßten die Mädchen und Jungen sehr schnell Vertrauen, wenn sie ihre anfänglichen Ängste überwunden hätten.

Der Kindernotdienst, dem tagtäglich beim Klauen erwischte Kinder oder Trebegänger von der Schutzpolizei zugeführt werden, bestätigt den positiven Trend. „Die Beamten bemühen sich zum Teil richtig liebevoll, auf die Belange der Kinder einzugehen“, sagt Leiter Karl Droescher. „Früher war alles rigider.“ Bei den kleinen Straftätern, die zum x-tenmal gebracht würden, fragten sich die Beamten natürlich auch: „Was machen wir hier eigentlich?“

Die meisten Kinder kommen erstmals persönlich mit der Polizei in Berührung, wenn der Kontaktbereichsbeamte sich in der Kita oder Grundschule vorstellt sowie bei der Verkehrserziehung. 150.000 Kinder kommen jährlich in den Genuß einer sogenannten polizeilichen Verkehrssicherheitsberatung. „Wir werden von den Kindern voll akzeptiert und in Einzelfällen sogar bei familiären Problemem ins Vertrauen gezogen“, weiß Verkehrssicherheitsleiter Michael Kreuzling. „Wir denken, unser Bild ist gar nicht so schlecht, wie es manchmal suggeriert wird.“

Kinder haben im Vergleich zu manchem Erwachsenen eher ein gutes Verhältnis zur Polizei. Die Polizei ist für die Kinder eine Schutzinstanz, die man bei Gefahr zur Hilfe ruft, bestätigt eine Sozialarbeiterin aus Kreuzberg. Wenn Kinder ein Negativbild von den Uniformierten hätten, liege das in der Regel daran, daß sie ungefiltert die Vorurteile von Erwachsenen übernommen hätten, glaubt der Familientherapeut des Kinderschutzzentrums, Peter Hutz. Insbesondere Eltern aus dem grün-alternativen Milieu, die früher große Polizeikritiker waren, hätten Schwierigkeiten, ihren Kindern ein stimmiges Verhältnis zur Polizei zu vermitteln. Das liege daran, so Hutz, daß die Polizei eben nicht nur in vielen Bereichen sehr gute Arbeit leiste, sondern auch immer wieder aus der Rolle falle, zum Beispiel am 1. Mai oder gegenüber Ausländern. Die unguten Erlebnisse vieler Migranten mit Behörden hinterlassen natürlich auch bei deren Zöglingen Spuren. „Migrantenkinder haben ein eher vorurteilsvolles Verhältnis zur Polizei aufgrund der schlechten Erfahrungen ihrer Eltern“, hat die Erziehungswissenschaftlerin Eren Ünsal beobachtet.

Die Polizei hat in den Kindern allerdings nicht nur große Freunde, sondern auch sehr kritische Beobachter. Dem 13jährigen Joshua mißfiel, daß er von einem Beamten gleich als Bandenmitglied beschimpft wurde, als er bei einem Einsatz vor seiner Schule „nur mal gucken“ wollte. Und der elfjährige Zian findet es „doof“, daß die Beamten einfach das Blaulicht einsetzen, um aus einem Stau rauszukommen. „Dafür ist das nicht da.“