: Im Reich der Freiheit Von Joachim Frisch
Wie jeder anständige Mensch war auch ich in meiner Jugend von revolutionären Ideen beseelt. Mir imponierten Berliner Studentenführer und bolivianische Guerillakämpfer, die sich einen Dreck um Recht und Ordnung scherten und dabei auch noch eine Menge Spaß hatten. So jedenfalls stellte ich mir das Leben eines Revolutionärs vor.
Im eigenen Leben schimmert revolutionärer Glanz nur selten durch die Schwaden des alltäglichen Kampfes gegen Müdigkeit, Kater und den Ekel vor der Arbeit. Und wenn mal etwas glänzt und funkelt, dann ist dies meistens den von Nervengiften sensibilisierten Netzhäuten zu verdanken, wie in den 80er Jahren beim Festival für Krautrock und Landfreakfolklore in Ingelheim bei Mainz. Nie werde ich vergessen, wie dort einmal mitten auf der Hauptstraße ein pfälzischer Spontaneist und Anarchopraktiker von einem mit zwölf Personen besetzten VW-Cabrio herunter, sturzbetrunken und brummend vor provinziellem Stolz, die Anarchie ausrief.
Dies sollte für gut zehn Jahre mein eindrucksvollstes Anarchoerlebnis bleiben, bis zu jener Nacht, in der eine Welt aus den Fugen geriet.
Polizisten winkten fröhlich Menschen zu, die sich aus Seitenfenstern der Autos lehnten und in Schumimanier Sekt auf Passanten spritzten, infrastrukturell zentrale Verkehrsadern waren von friedlich feiernden und singendem Fußvolk belagert, wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, lachten und scherzten. Recht und Ordnung waren außer Kraft gesetzt, alle Herrschaft war aufgehoben, es herrschte nur das pure Glück.
Die Bedürfnisse der Menschen waren das Maß aller Dinge. Fröhliche Freunde reichten ohne Unterlaß erfrischende Getränke dar, eine bildhübsche Fee las geheime Wünsche von den Augen ab und erfüllte sie, kredenzte nobles Nasch- und edles Rauchwerk und massierte sanft den vom Hinunterschlucken der frischen Biere verspannten Nacken.
Es war nicht das Paradies, in dem es zwar angenehm gewesen sein soll, das aber auch der erste Ort hoheitlicher Observation war. Es war das Schlaraffenland, wo es alles gibt, was Spaß macht, wo aber Neid, Haß und Kontrolle unbekannt sind.
Am dritten Tage – einen Tag lag ich im Koma, einen Tag lang hielt ich mit beiden Händen den Bauch, in dem mein Magen sich umzustülpen drohte – holte mich der Alltag ein. Längst hatte ich den Ort des rauschenden Festes verlassen, noch immer quälten mich eine posteuphorische Depression, als ein Verdacht aufkeimte: War das alles am Ende nichts weiter als die tiefe Sehnsucht nach einem Monarchen, der Glanz verbreitet und Unbill von ihm fernhält, die jenes Volk im tiefsten Innern umtrieb? Der Wunsch, sich in der Obhut eines glorreichen Herrschers selbst zu vergessen? War die ganze Sause ein Ritual der Weltvergessenheit und der Unterwerfung, des kollektiven Deliriums? War die Nacht der Utopie, waren die Freunde, die Freude, der Friede, die Fee und die Havannas vielleicht nur die süßen Trugbilder eines vulgären Vollrausches?
Und wenn schon. Im nächsten Jahr will ich jedenfalls dabei sein, wenn man in Kaiserslautern den Gewinn der Champions League feiern wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen