Der Dokumentarfilm durfte nicht Vehikel sein

Mit 67 Jahren starb der Dokumentarfilmer Gerhard Scheumann, der mit Filmen wie „Kongo-Müller“ auch über die DDR hinaus bekannt wurde. Fragen nach der Funktion des Dokumentarfilms führten in den 80er Jahren zum Verlust des eigenen „Studio H & S“  ■ Von Dietmar Hochmuth

Bei Kriegsende gehörte der ehemalige Schüler einer Nationalsozialistischen Eliteschule, der 15jährige Gerhard Scheumann, zu jener Generation, der – gegen Vorlage eines Grundbekenntnisses zu ihr – in der neuen Ordnung der DDR buchstäblich alle Türen offenstanden. Wie später keiner Generation mehr nach ihr. Zu einer Zeit, als die alten Eliten entnazifiziert, „entbürgerlicht“ und gegen neue ausgetauscht wurden, arbeitete Scheumann mit kaum 18 Jahren als Redakteur beim Radio und war mit 23 bereits Dozent an der Fachschule für Rundfunkwesen. Doch die Zeit der Chancen war kurz. Als er später zum gerade gegründeten Deutschen Fernsehfunk ging, in die Redaktion des innenpolitischen Magazin „Prisma“, fielen die von ihm moderierten Sendungen wohltuend aus dem mausgrauen Adlershofer Einheitsschwarzweiß heraus. Der Alleingang wurde indes nicht lange gutgeheißen, und so verlegte sich Scheumann ab 1965 auf Dokumentarfilmarbeit jenseits der DDR-Wirklichkeit. Er begründete dazu eigens ein ganz spezifisches Genre: den „außenpolitisch korrekten Film“. Der natürlich die ganze Überlegenheit des sozialistischen Lagers hinter sich wußte und „Zyklen der Weltpolitik schaffen sollte, um die Epochenproblematik zu vergegenwärtigen“, wie es im Lexikon „Film von a – z“ hieß.

Zusammen mit Walter Heynowski zog Gerhard Scheumann fortan um den Globus und filmte gegen die imperialistischen Aggressionen der anderen Welthälfte im Kongo, in Vietnam, im Nahen Osten, in Chile an. So entstanden Porträts von Tätern („Kongo-Müller“, „Piloten im Pyjama“) und Gruppen-, ja Landschaftsbilder von auferstehenden Opfern („Der erste Reis danach“), aber auch bissige Satiren auf den Verfall der Sitten in der „restaurativen BRD“, die von verhurten Politikern und ihren Wahrsagerinnen, Altnazis und Revanchisten übersät schien. Dabei blies Scheumann dennoch nie in das Horn eines Karl-Eduard von Schnitzler; seine Filme waren in ihrer Form auffallend durchdacht und in der Message ambitioniert-intelligent, manchmal sogar brillant, was Scheumann weltweit Festivalpreise einbrachte und zu Hause (1969) ein eigenes Studio, eine einzigartige Konstruktion.

Produzent und Autor verschmolzen zu einer auch heute seltenen Einheit, das Studio hieß sogar „H & S“, was für Heynowski und Scheumann stand, und war so etwas wie eine sozialistische GmbH. Während der bedeutendere Rest der „DDR-Filmschaffenden“ beinahe jede Büroklammer bei „ihrem Minister“ beantragen mußte, erfilmte sich Scheumann eine beneidenswerte Autonomie, die ihm beim ersten Aufmucken allerdings gleich wieder genommen wurde. 1982, als Scheumann womöglich den Checkpoint Charlie täglich häufiger passierte als die „Zahlbox“ der BVG, bemerkte er auf einem Filmverbandskongreß kritisch: „In dem Maße, wie sich eine Gesellschaft über ihre Probleme öffentlich verständigt, bekundet sie entweder Reife oder Unreife ... Wenn der Dokumentarfilm nur als Vehikel der täglichen Medienpolitik benutzt werden soll, muß er verkommen.“ Das nahm ihm die Partei, seine Partei, übel. Doch Scheumann bewies zwei Dinge: Man konnte widersprechen – und das hatte seinen Preis. In einer Zeit, als der spätere Heldenstädter Kurt Masur noch munter mit Erich Honecker das Sektglas schwang und Kathi Witt Pirouetten um beide drehte, aber auch der heute neunmalkluge Wolfgang Thierse in den Sphären des DDR-Kulturministeriums seinen Dienst tat, riskierte Scheumann vermutlich mehr, als er selbst geahnt hatte. Das Studio wurde geschlossen und zu einer Abteilung des Defa-Dokumentarfilmstudios degradiert. Scheumann drehte einen Film über das Wohnungsbauprogramm der SED, das bezeichnenderweise „Die dritte Haut“ hieß. Einige Jahre zuvor war der beschützende Engel der Konstruktion „H & S“, das junge, dynamische Politbüro- Mitglied Werner Lamberz, bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen, und Honecker selbst hatte den Gleichschritt der Bildermacher unter sein Kommando gestellt. Damit begann Scheumanns Absturz. Mit dem Untergang der DDR wurde es still um ihn. Er schrieb engagierte Artikel in engagierten Zeitungen, die längst eingegangen sind; an das Produktionsmittel Filmkamera oder Schneidetisch kam er nie wieder heran, und in die angeblich vereinte Akademie der Künste wurde er nicht übernommen – anders als viele Ostler, die Zeit ihres Lebens nie aufgemuckt haben.

Heute, in dieser schnellebigen Zeit, kennt kaum noch jemand seinen Namen. Das Internet brachte gestern: „keine Einträge gefunden“. So steht auch er für den bekannt schwierigen Umgang mit DDR-Geschichte. Womöglich schlug das alles Gerhard Scheumann so sehr auf den Magen, daß dieser jetzt darauf mit einem bösen Krebs reagierte, der sein Leben in unverdienter Vergessenheit und Demütigung beendete.