: Kein Zeichen vom Joker
Nullsilbig wie nie: Bob Dylan in der Berliner Waldbühne. Die Speisung der 10.000 blieb aus. So stur ist nicht mal Neil Young! ■ Von Thomas Groß
Nach mehr als einer Stunde kommt das erste gesprochene Wort über die dylanschen Lippen: Ein Ausrufen der Mitstreiter, begleitet von einer Geste nach hinten und beiseite, mehr genuschelt, hingeworfen als posaunt. Und siehe, beim Griff zum Notizblock, um den raren Moment der Ansprache zu fixieren, zeigt sich, daß auch der Nachbar auf die Uhr gesehen hat: mehr als eine geschlagene Stunde, Mann! Wir beide sind Zeugen. Er könnte uns was damit bedeutet haben wollen. Bloß was?
So ist das in Bob-Dylan-Konzerten: Der Performer selbst wird immer enigmatischer, knapper, operiert hart am Rande des Nullsilbigen, während die 10.000, die's diesmal gewesen sein mögen im Amphitheater der Berliner Waldbühne, ungeduldig auf ein Zeichen warten. Und weil der Kommentar von da vorne, da oben es nicht hergibt, muß der Wink, die Botschaft sich irgendwo in der gleitenden Bewegung des Repertoires selbst verbergen, oder etwa nicht?
Die meisten, die mit sind, haben jedenfalls so was läuten gehört. „Maggie's Farm“ soll das Eröffnungsstück sein, danach das gern als zweiter Titel genommene „All Along The Watchtower“ – das ist schon rein statistisch bewiesen! Ausbaldowert von Dylanologen, die sämtliche Konzerte mit der Akkuratesse von Lottotippgemeinschaften auf wahrscheinliche Kombinationen hin auswerten. Weiter weiß allerdings keiner. „Bist du verrückt??“ hat die Pressefrau des lokalen Veranstalters auf die unschuldige Frage nach einer Setlist geraunt. Wir sind hier schließlich nicht bei Michael Jackson. „Jedes Konzert ist ein Unikat!“
Dylan geht sogar noch einen Schritt weiter, sprengt sämtliche Erwartungshaltungen und eröffnet mit „Everything Is Broken“, dem dritten Stück der 89er CD „Oh Mercy“ – gar kein schlechter Schachzug! Respekt! Ein Anknüpfen an die letzte Schaffensphase vor dem großen Rückzug in knurrige Folktraditionals, das Fastverstummen des in den Sechzigern gefundenen, über die Siebziger durchgehaltenen, in den Achtzigern schon schwer zerfaserten Legendentons, in den Neunzigern erst wieder aufgenommen mit der triumphalen, zugleich heavy testamentarischen „Time Out Of Mind“-Platte vom vergangenen Jahr; ein Stück, das von Anbeginn an nichts übrigläßt: zerbrochene Leben, zerbrochene Flaschen, zerbrochene Betten, zerbrochene Hits – „ain't no use jivin', ain't no use jokin', everything is broken“. Wem sagt er das? Das Publikum wippt mit, als wären die meisten von ihnen nicht mittlerweile Mercedes- Fahrer. Sogar die aus dem Osten!
Die Band, die auf der Bühne steht, scheint sich in Zeit und Land geirrt zu haben. Irgendeine unbekannte Konjunktur der schallplattenproduzierenden Industrie hat sie hierher verschlagen, ein Wiederaufleben transatlantischer Roots-Traditionen, sagen die verstreuten Zeichen, vielleicht auch nur eine versuchte Heimholung der alten Idole ins allamerikanische Pantheon. Weiß Dylan überhaupt, wo er sich hier befindet? Der Meister trägt schwarz und schweigt beharrlich, die Begleitung klampft. So stur ist nicht mal Neil Young! Langsam, fast zäh schälen sich die alten Lieder aus den Präliminarien endloser Eingrooveprozesse, die vor lauter Um- und Abschriften das Original vergessen zu haben scheinen. Wir wollen das gutfinden, doch. Aber eigentlich ist es gar nicht so toll. Oder deswegen gerade erst recht? Publikumsbeschimpfung durch Sinnversagung? So muß es wohl sein, jawoll! Ein feste Burg ist unser Dylan!
Bis auf Bucky Baxter, den Exzentriker mit der Snakeskinjacke, ist die Verstärkung im einheitlichen Totengräberchic angetreten, rupft nach Kräften die Akkorde zu Dylans antimodernem Weltuntergangsblues, bevor sie nach kurzem Aufleuchten einiger zentraler Lebensweisheiten – daß es keinen Erfolg außer dem Scheitern gibt, aber das Scheitern natürlich auch nicht so toll ist; daß auch die Zeit die Wunden nicht heilt, die das Leben schlägt; daß Stille oft besser ist als 1.000 Worte und dergleichen mehr – auch schon wieder in die Tiefen des mittlerweile mehr als 300 Songs umfassenden, offenbar nach den Kriterien eines Zufallsgenerators aktualisierten Werkkanons zurückgleitet. Die Speisung der 10.000 bleibt aus zugunsten altüberlieferter Dylan-Minimalkonsense. Und auch die sind schmal. Also sprach der Jokerman: Spart euch die Exegese, Folks, ich bin es nicht, nach dem ihr sucht, „it ain't no use in calling out my name...“
Das ist es, was alle gewußt haben. Aber das ist es nicht, was die meisten haben wollen. Ohne Niederkunft im Sound des Wortes nämlich kein geglücktes Dylan- Konzert. Das gesamte Modell des Songpoeten, der schwachen Stimme mit Aura, das Dylan in den frühen Sechzigern mitentwickelt hat, verdankt seine Verbindlichkeit einer schwindenden Form der kulturellen Weitergabe: der Schöpfung aus dem Geist einer Rede, die zwar über die Popkanäle zu Ruhm gekommen ist, aber zugleich auf die Macht des älteren, des Dichterworts vertraut. „Come gather round, people, wherever you roam...“ – da kommt es auch schon, herausgequengelt zur Akustischen. Im Konzert soll zusammenkommen, was in der Welt geteilt war: der Geist und das Wort, die Musik und das Publikum, der Prophet und die Gemeinde, der Blues und die Pilgerväter – das alles im Medium einer reinszenierten, oralen Unmittelbarkeit.
Die angemessene Rezeptionsform dafür ist nicht die Dekonstruktion, sondern die gute alte Hermeneutik, die Lehre von der Auslegung. Nicht zufällig hat sie sich historisch entlang des Buchs der Bücher herausgebildet. Bob- Dylan-Songs wollen wiedergespielt/-gehört/-gelesen werden, man soll sie gegen die Zumutungen der Gegenwart mit sich herumtragen wie Zitate einer Taschenbibel. Nur im Zusammenklang mit dem beständigen Murmeln ihrer Neuinterpretation wird offenbar, was jeder Dylan-Fan im Grunde seines Herzens begriffen hat: daß dieses Nachbuchstabieren eigentlich Exerzitien einer Ordensgemeinschaft sind. Daß der Bobfather, der im letzten Jahr dem Papst was vorspielte, sich selbst als Kirchengründer versteht. Daß die „Never ending Tour“ ein verspäteter Abkömmling der Missionsreise ist.
Doch gerade auf dem Gebiet ist die Konkurrenz im Rave-Zeitalter groß. Oh Mercy! Wenn wenigstens der Körper was kommunizieren würde! Aber Dylan agiert mit dem Sex-Appeal eines hüftlahmen Erpels. Mal die Andeutung eines Ausfallschritts, ein leichtes, gefährlich wirkendes Schwanken zur Seite. Dann wieder ein Gitarrensolo von arthritischer Kraft, das sich auf zwei Tönen eisern-tapfer einpendelt. Das macht ihm so leicht keiner nach, diese Negation weltlichen Virtuosentums ins Substantielle hinein. Nein, das ist nicht jung, das kommt nicht gut, es ist nah am Skelett gebaut, abstrakt und reduziert wie das Alterswerk eines Überlebenden der Songmoderne. Indes spannend. Man verfolgt den Prozeß, als würde man Picasso ein Strichmännchen malen sehen. Und leidet mit. „Tangled Up in Blue“, „Love Minus Zero/No Limit“, „Highway 61“ mit rollendem Gitarrendonner, „Silvio“ als Bluesrocker. Und nochmal die Akustische. Tosender Beifall für eine Mundharmonikapassage in freierer Gangart! Mit stoischer Miene entgegengenommen. It's the song, not the singer. Plötzlich scheint His Bobness sich gänzlich aus seinem eigenen Set absentieren zu wollen, verschwindet in den Kulissen, und niemand weiß, ob jetzt Pause oder schon Schluß ist.
Das Finale schleppt sich dann climaxlos über einige Szenarien von „Time Out Of Mind“, dem vorläufigen Epitaph des ×uvres, zu – ausgerechnet! – „Blowin' In The Wind“, dem ältesten aller Barfußmönchlersongs, zurück. Es ist, als wäre man in einer endlosen Zugabe begriffen. Schon richtig: Jedes Konzert ist ein Unikat. Und dieses hat nach den intimeren Shows in kleineren Arenen etwas enorm Verlorenes, Verhuschtes. Was soll man den Lesern da draußen also überbringen, zumal so kurz nach Pfingsten? „Der Funke sprang nicht über“?
Wahrscheinlich wirklich gerade dieses. Der Guru war hier, und er war froh, noch was zu gelten, und doch auch müde von der Last seines Guruseins. In der Dämmerung stahl er sich mit seinen Kumpanen grußlos davon, als wäre er der Namenlose, den er in seinen Träumen vor sich sieht.
Beim Abgang über die Rampe der Waldbühne war zu sehen, daß er ein kleines Köfferchen mit sich führte. Was drin war, verschwiegen glücklich die Götter. Gewußt hätte man es natürlich schon gern...
Weitere Konzerte: 12.6. Hamburg, 14.6. Bremen, 16.6. Essen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen