■ Brandenburg verharmlost Menschenrechtsverletzungen an Berlinern: Kolonisiert den Osten!
Gut 30.000 Berliner erfüllten sich allein im letzten Jahr einen Traum: raus aus der lärmenden Metropole. Mit vollgepackten Umzugswagen ins grüne Brandenburg. Die Hauptstadt verzeichnet eine alljährliche Massenabwanderung ins Umland, die deutschlandweit ihresgleichen sucht. Reihenhäuschen im Grünen, Grillen im eigenen Garten, Getreidefelder vor der Tür. Berlin, einst eingemauerte Halbinsel, endlich! auf dem Weg zur Normalität.
Eine schizophrene Normalität. Denn was für die einen der Lebenstraum ist, kann für andere zum Alptraum zu werden. Für Berliner Jugendliche sind Ausflüge in brandenburgische Umland nur noch mit Vorsicht zu genießen. Für Schüler mit dunkler Haut- und Haarfarbe droht die Stadt, neun Jahre nach dem Mauerfall, wieder zur Insel zu werden.
An der Landesgrenze zum benachbarten Brandenburg, der heimischen Jugend sei Dank, leuchtet ihnen das unsichtbare Schild entgegen: „Betreten nur auf eigene Gefahr“. Ein denkwürdiger Vorgang, für den es in der Geschichte der Bundesrepublik kein Beispiel gibt: Lehrer, Eltern und Schüler müssen sich ernsthaft damit auseinandersetzen, daß es in Deutschland verbotenes Terrain gibt, Ungegenden, in denen ortsfremde Jugendliche, milde gesagt, als unerwünschte Personen gelten. In der rechtsextremen Kampfsprache heißt das Phänomen „national befreite Zone“. Man kann es schlicht auch Menschenrechtsverletzung nennen.
Darf eine Gesellschaft das dulden? Darf sie flüchten statt standzuhalten, darf sie den „Glatzen“ durch Fernbleiben die Hoheitsgewalt über ein Terrain überlassen? Natürlich nicht. Aber sie darf auch nicht Kinder und Jugendliche zu pädagogischen Sparringspartnern machen. Es kann nicht Aufgabe Berliner Jugendlicher sein, ihre durchgeknallten Altersgenossen jenseits der Landesgrenze zu zivilisieren.
Die Aufgabe gebührt anderen. Denn zum brandenburgischen „Betreten auf eigene Gefahr“ gehört auch der Zusatz: „Eltern haften für ihre (Landes- )Kinder“. Brandenburgs Übermutter Regine Hildebrandt möchte man diesen Satz stündlich vor die Nase halten. Denn während Berliner Schulklassen fluchtartig Klassenfahrten abbrechen, schwört sie patriotisch eisern: „Unsere Jugendlichen sind nicht rechter und gewalttätiger als andere.“
Gegenüber Nationalstaaten, die Menschenrechtsverletzungen in den eigenen Grenzen negieren, gibt es so schöne Sanktionen wie Abbruch der diplomatischen Beziehungen oder Handelsembargo. Brandenburg und auch anderen ostdeutschen Landstrichen hilft vielleicht nur die eine Methode, die im Speckgütel Berlins begonnen hat: Kolonisierung durch Völker(unter)wanderung. Vera Gaserow
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