„Tempo 200 sicherer als Tempo 100“

■ Für den Münchner Bahnexperten Karlheinz Rößler ist die gestern verfügte Geschwindigkeitsbegrenzung auf 160 km/h für die ICE-Züge nur Unfug. Im Gegenteil: Langsamfahren ist gefährlicher, sagt Rößler

taz: Hat die Bahn genügend für die Sicherheit des ICE getan?

Rößler: Ich bin überzeugt, daß die Bahn genügend dafür getan hat, daß möglichst keine Unfälle passieren. Unfälle sind prinzipiell nicht auszuschließen. Wie kann man Züge vor abstürzenden Flugzeugen schützen? Selbst wenn man alle Eisenbahnstrecken in Tunnel vergraben würde, wäre das keine perfekte Sicherheit. Denn auch eine Tunneldecke kann einmal einstürzen. Oder es könnte ein Erdbeben auftreten. Dagegen kann die Bahn nichts tun. Ich bin überzeugt, die DB hat getan, was sie konnte. Aber sie ist nicht perfekt. Technik ist nie perfekt. Man muß immer mit einem kleinen Restrisiko leben.

Die Bahn AG hat angeordnet, daß vorläufig alle ICE nur noch 160 Stundenkilometer fahren dürfen. Halten Sie das für sinnvoll?

Ich fühl' mich bei Tempo 200 sicherer als bei Tempo 100. Denn Züge sind bisher fast immer im unteren Geschwindigkeitsbereich entgleist. Ein Zug mit Tempo 200 hat die vierfache kinetische Energie wie ein Zug mit Tempo 100. Salopp gesagt: Er ist um den Faktor 4 entgleisungssicherer. Es muß schon eine viermal so große Kraft sein, die einen Zug bei Tempo 200 aus dem Gleis wirft, wie bei Tempo 100.

Was passiert bei einem Aufprall auf ein Auto oder einen Baum?

Es gibt tausendfache Erfahrung mit Autos, die auf Bahnübergängen oder Gleisen standen und vom Zug gerammt wurden. Dem Zug ist in der Regel nichts passiert, dem Auto sehr wohl. Da ist es eigentlich egal, ob ein Zug mit Tempo 100 oder 200 auf ein Auto aufprallt – das Auto ist zerquetscht, die Leute im Auto sind tot. Da reicht wahrscheinlich schon Tempo 50. Die Lok hat allenfalls ein paar Dellen und Schrammen. Gefährlich für den Zug ist so ein Unfall nur dann, wenn er kurz vor einer Weiche ist. Es gab in Oberschleißheim vor Jahren solch einen Unfall. Das Auto hat sich in der Weiche verkeilt, und dadurch ist der Zug entgleist.

Kann ein Lokführer noch eingreifen, wenn er bei Tempo 200 ein Hindernis sieht?

Wenn überraschend ein Hindernis auftaucht, kann er nichts machen. Der Bremsweg ist zu lang. Aber er kann auch bei 120 oder 160 Stundenkilometern nichts machen.

ICE fahren mit Bordcomputern. Ist das nicht auch eine Unsicherheitsquelle?

Der Bordcomputer überwacht und steuert gegebenenfalls den Zug, beschleunigt und bremst ihn. Aber in der Regel, so haben es mir die Fachleute von der Bahn AG erklärt, soll der Lokführer selbständig fahren, als ob es den Bordcomputer nicht gäbe. Der Bordcomputer überwacht ihn nur, damit er keine Fehler macht, und zeigt an, wie auf den nächsten Kilometern die Signale stehen und wie schnell der Zug fahren darf.

Auf der Strecke, auf der der Unfall passiert ist, sind 200 Stundenkilometer zugelassen?

Ja. An der Stelle ist die Strecke ja schnurgerade. Eine sicherere Strecke als diese gibt es eigentlich nicht.

Wie sicher sind denn Züge im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln?

Im Vergleich zum Auto sehr, sehr viel sicherer. Im Vergleich zum Fliegen ist der Hochgeschwindigkeitsverkehr – Tempo 200 und aufwärts – ähnlich sicher. Der normale Eisenbahnverkehr ist vielleicht nicht ganz so sicher. Denn im unteren Geschwindigkeitsbereich gibt es öfter mal Entgleisungen.

Wie sicher ist der ICE im Vergleich zu anderen Hochgeschwindigkeitszügen?

Nach meiner Kenntnis gab es bisher mit Hochgeschwindigkeitszügen ab Tempo 200 nur zwei Unfälle – einen mit dem TGV und jetzt diesen mit dem ICE. Diese zwei Ereignisse sind bisher die gesamte Erfahrung. Deshalb kann man der DB auch keinen Vorwurf machen, nicht vorgesorgt zu haben. Sie konnte nichts tun, weil sie keinen Anlaß hatte, mit einem Unfall zu rechnen.

Interview: Anne Barthel