: „Wir stehen an einem Kreuzweg“
Der Priester Leonardo Boff war in den achtziger Jahren einer der prominentesten Kritiker des verknöcherten Katholizismus. Er wetterte gegen starre Kirchenhierarchien, setzte sich kritisch mit dem Zölibat auseinander und forderte ein menschlicheres Verständnis von Sexualität. Der Vatikan versuchte ihn nach Kräften zu deckeln – ohne großen Erfolg. Die marxistisch inspirierte Befreiungstheologie Lateinamerikas hat die amtskirchlichen Bevormundungen gut überstanden. 100.000 Basisgemeinden gibt es alleinin Brasilien. Leonardo Boff, inzwischen 59 Jahre alt und in Rio de Janeiro lebend, verließ vor sechs Jahren den Franziskanerorden. Er fordert eine gründliche Reformation der katholischen Kirche: „Nur so kann die Kirche zu neuer Luft kommen.“ Mit ihm telefonierte ■ Annette Kanis
taz: Von Befreiungstheologie scheint niemand mehr etwas wissen zu wollen. Ist das eine typisch europäische Sicht? Oder hat sie tatsächlich weniger Einfluß als in den siebziger, achtziger Jahren, als viele junge Christen nach Lateinamerika fuhren, um dem Geist der Basisgemeinden auf die Spur zu kommen?
Leonardo Boff: Es gibt wohl viele, die nur nach theologischen Moden gucken. Für uns hier in Lateinamerika ist die Befreiungstheologie kein Schlager der Saison, sondern gelebte Praxis. Und tot ist sie überhaupt nicht. Nach wie vor ist sie aktuell, das können Sie mir glauben. Solange es Armut, wirklich hoffnungslose Armut gibt, bleibt die Befreiungstheologie aktuell. Denn sie ist eine Einladung an alle Christen, im Glauben nicht nur eine mystische, sondern auch eine politisch engagierte Dimension zu sehen.
Wie sieht das konkret aus?
Der Glaube kann eine Kraft der Veränderung sein. Er ist ein Impuls für das Engagement gegen die bestehende Ordnung. Eine, die so erschütternd viel Verarmung zuläßt. In Brasilien gibt es mehr als hunderttausend Basisgemeinden. Sie sind der Ort, wo die Verbindung zwischen Glauben und Leben, zwischen Gerechtigkeit und theologischer Reflexion liegt. Unsere Basisgemeinden erfahren zur Zeit eine Wiederbelebung wegen der großen wirtschaftlichen Krise des Landes. Aber ich gebe Ihnen recht: Weltweit wird nicht mehr soviel von der Befreiungstheologie gesprochen.
Im christlichen Glauben sollte doch eigentlich viel Befreiung stecken. Warum brauchte er überhaupt eine Befreiungstheologie?
Bei der Befreiungstheologie geht es zunächst um pastorale Praxis. Um den Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Das setzt das Empfinden voraus, daß die soziale Wirklichkeit für die Bevölkerungsmehrheit sehr ungerecht ist. Theologisch betrachtet ist das eine soziale Sünde. Hier haben verschiedene Kirchen auf unserem Kontinent in den sechziger Jahren angesetzt und die Befreiungstheologie begründet. Entscheidend ist, daß sie nicht einfach etwas für die Armen macht, sondern mit den Armen zusammen.
Ist das schon der Unterschied zu den Amtskirchen?
Ja. Die Kirche war immer fürsorglich, das steht fest. Sie hat eine Reihe von Werken der Mildtätigkeit für die Armen gemacht. Aber sie hat fast nie versucht, die Wirklichkeit mit den Augen der Armen zu sehen. Von Befreien kann man jedoch nur reden, wenn die Armen selbst Subjekte ihrer Befreiung sein können.
Also eher ein politischer Ansatz. Wo bleibt der Glaube?
Der war immer dabei. Die christlichen Laien und die Bischöfe in Lateinamerika haben die Armen stets mit den Augen des Glaubens gesehen. Im Sinne einer Vergegenwärtigung des Gekreuzigten. Soziale Ungerechtigkeit als soziale Sünde. In der Befreiungstheologie besteht eine starke Verbindung zwischen Glauben und Gesellschaft, zwischen sinnlicher Erfahrung und politischem Engagement.
Wobei Sie durchaus zum Ärger vieler Militärdiktatoren nach den Ursachen dieser Armut gesucht haben.
Weil wir keine Wahl hatten. Wir brauchten ein wissenschaftliches, politisches Denken. Es hat politische Gründe und historische Ursachen, die die Misere der Armen hervorrufen und ständig reproduzieren. Um die Armut zu entlarven, haben wir Befreiungstheologen die kritischen Kategorien der marxistischen Tradition genutzt. Und zwar als sozialanalytische Methode.
Dafür wurden Sie scharf vom Vatikan kritisiert. Wie stehen Sie heute zu diesen marxistischen Überzeugungen?
Um das klarzustellen: Wir haben nie marxistische Thesen übernommen, nur die aufklärerische Dimension des Marxismus. Mit ihm kann man die Gesellschaft sinnvoll interpretieren. Als Analyse ist er sehr wertvoll, weil man damit die gesellschaftliche Ordnung als Unordnung entlarvt, als ungerechte Gesellschaft. Unser Grundanliegen aber ist vom christlichen Glauben bestimmt.
Haben Sie sich inzwischen vom Marxismus distanziert – gerade nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Ende der achtziger Jahre?
Nein. Denn solange wir Verarmung in der Welt haben, hat der Marxismus als analytische Methode eine wichtige Bedeutung. Er ist heutzutage sogar aktueller denn je, weil man damit den Neoliberalismus, den Weltmarkt und die Globalisierung entlarven kann. Denn gerade dieses Weltwirtschaftssystem funktioniert nur für einen kleinen Teil der Menschheit. Für die meisten sieht es dagegen schlecht aus. Der Marxismus bietet Kategorien an, diese Wirklichkeit als unmenschlich zu denunzieren.
Was dem Vatikan überhaupt nicht gefiel. Ihre Amtsbrüder in Rom haben sich vor allem an Ihrer Nähe zum marxistischen Glaubenssystem gestoßen.
Wie gesagt, der Marxismus war für uns nie ein konkurrierender Glauben. Unser Erfolg ist, daß heute die Kirche offiziell die Grundanliegen der Befreiungstheologie übernommen hat. Inwieweit sie diese auch umsetzt, muß jeder Christ und jede Christin allerdings selbst entscheiden.
Der Vatikan als Hort der Befreiung von Armut? Das müssen Sie uns erklären.
Papst Johannes Paul II. betont ständig, daß die Option für die Armen nicht nur eine Sache der Befreiungstheologie sei, sondern eine Sache der Kirche überhaupt. Er hat den Kapitalismus gegeißelt und vor allem die Ungerechtigkeiten, die dieser notwendig mit sich bringt. Und es ist unser Verdienst, daß innerhalb der Kirche die politische Dimension des Glaubens erkannt wurde. Sie hat die Verteidigung der Würde des Menschen und der Natur verstärkt in den Mittelpunkt gerückt. Ich denke, anerkannt ist auch, daß die Basisgruppen der Ort sind, wo die politische Dimension des Glaubens und das politische Engagement zusammenkommen.
Sie haben nach jahrelangen Querelen mit dem Vatikan 1992 Ihr Priesteramt niedergelegt und sind aus dem Franziskanerorden ausgetreten. Wie sieht Ihr Verhältnis zu Rom heute aus?
Ich habe nie Probleme mit Rom gehabt. Rom hat Probleme mit mir gehabt. Mein Verhältnis zum Vatikan ist sehr normal, ich habe nie Bitterkeit in mir wachsen lassen.
Obwohl der Vatikan Ihnen Redeverbot erteilte, Ihre Schriften zensiert hat und Sie mehrmals gemaßregelt wurden, ehe Sie als Priester im Kampf gegen die Kirchenhierachien aufgegeben haben?
Das war keine Resignation. Nach meinem Rücktritt als Priester habe ich mich zum Laienstand promoviert. Seit Jahren betreibe ich aus dieser neuen Situation die Befreiung, ich denke, sogar mit Erfolg. Ich bin ordentlicher Professor für Ethik und Philosophie an der Staatsuniversität von Rio de Janeiro, organisiere ein Projekt für Straßenkinder. Ständig bin ich unterwegs mit Vorträgen. Im vergangenen Jahr war ich Gastprofessor in Basel. Auch in Europa stoße ich glücklicherweise auf Sensibilität für soziale Fragen.
Was werden Sie heute noch tun?
Ich fahre gleich nach unserem Gespräch zu einem Treffen mit Landlosen. Sie haben Schwierigkeiten mit der Polizei, weil sie Land besetzt haben und jetzt ausgewiesen werden sollen. Ich gehe dort hin, um die Leute in ihrem Widerstand zu unterstützen.
Sie sind aus Ihrem Priesteramt zurückgetreten. Hatte das konkrete Folgen für Ihre Arbeit?
Eigentlich nicht. Ich zelebriere weiterhin Messen, taufe, schließe Ehen – so wie immer. Schließlich bin ich nicht aus der Basiskirche ausgetreten, sondern nur aus der Amtskirche.
Und das stört die Amtskirche nicht, daß Sie weiterhin die Sakramente erteilen?
Nein, ganz und gar nicht. Man muß das aus der Situation hier in Brasilien sehen. Die Basiskirche ist so groß – und hat so wenige Priester. Da habe ich sogar das Verständnis und die Unterstützung unserer Bischöfe.
Was sind, an der Wende zum dritten Jahrtausend, die größten Probleme der katholischen Kirche?
Vor allem ihre strukturellen Probleme. Seit der Reformation hat sich die Kirche nicht mehr verändert. Deswegen sind Luthers Thesen immer noch aktuell. Am schlimmsten ist die starre Hierarchie, die ständig Ungleichheiten hervorruft, die Marginalisierung der Laien und die Verneinung der Rolle der Frau. Das sind für mich historische, soziale und theologische Sünden der katholischen Kirche.
Wie sehen Sie die Zukunft der katholischen Kirche?
Diese Kirche muß sich bekehren. Wenn sie die anstehenden Fragen nicht löst und Auswege findet, rückt sie völlig an den Rand der Gesellschaft. Ich finde das sehr schade, denn die Botschaft Jesu ist eine Botschaft der Großzügigkeit und der Offenheit. Sie hat eigentlich nichts mit Starrheit und Dogmatismus zu tun.
Denken Sie, das Modell der Befreiungstheologie mit ihren Basisgemeinden wäre ein zukunftsfähiges Modell auch für die Kirche in der sogenannten Ersten Welt?
Ich sehe die Zukunft der Kirche auch dort ganz eindeutig in einer Gemeindekirche. Die Kirche müßte zu einer Bewegung werden, die verschiedene Kulturen, Kontexte und Gruppierungen ernst nimmt und berücksichtigt. Diese Bewegung würde die Sache Jesu weiterführen. Kirche als Institution im überkommenen Sinn hat keine Zukunft.
Hier in Mitteleuropa laufen der Kirche immer mehr Mitglieder davon.
Ja, das ist eigentlich sehr bedeutsam. Wir stehen heute an einem Kreuzweg. Hier das imperiale Christentum, das die Menschen an ihre Kultur anpassen und missionieren will – statt aus sich selbst herauszugehen und einfach den Menschen zu begegnen. Dort eine befreiende Linie des Christentums. Eine mit kleinen Basisgruppen, die zusammenwachsen und offen sind für neue Fragen. Und die sich inspirieren lassen von den verschiedensten Weltkulturen, zum Beispiel wie bei uns in Lateinamerika durch die Indianerkulturen. Nur so kann die Kirche zu neuer Luft kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen