: Wenn das Fernsehen sich selbst entdeckt
Immer öfter handelt Fernsehen von etwas, was eigentlich ganz naheliegend ist: vom Fernsehen. Und am Samstag abend startet auf Sat.1 „Echt wahr!“, eine weitere Selbsterkenntnis-Show. Doch was soll das alles eigentlich bedeuten? ■ Von Christoph Schultheis
Nehmen wir zum Beispiel Familie S.: Täglich um 16.50 Uhr kommt der Sohn vom Nachsitzen, die kleine Schwester von der Schulorchesterprobe, Muttern kommt mit dem Nesthäkchen vom Einkaufen und der Vater von der Arbeit. Und wohin kommen sie? Dorthin, wo im angloamerikanischen Volksmund „the heart“ ist und bei Familie S. der Fernsehapparat: home. Und was genau schaut sich Familie S. daheim an, täglich um 16.50 Uhr auf Pro7? – Na, dasselbe wie alle, die an dieser Stelle längst wissen, wovon hier die Rede ist, weil sie Familie S. täglich um 16.50 Uhr beim Zuschauen zuschauen: die „Simpsons“ natürlich. Doch der täglich wiederkehrende Vorspann, in dem sich die Cartoon-Familie selbst vorm Fernseher versammelt, ist mehr als ein Running Gag. Die kleine Szene erzeugt etwas, was nach Soziologie klingt, Spaß macht, und – zumal im deutschen Fernsehen – immer noch selten ist: Selbstreferentialität.
Echt wahr: Da sieht der TV- Konsument im Jahresdurchschnitt über tausend Stunden fern (nonstop wären das gut sechs Wochen, die wir uns gottlob in mehr oder weniger homöopathischen Dosen von drei Stunden pro Tag zuführen). Ja, da bleibt tatsächlich tagaus tagein gerade mal jeder zehnte Apparat im Lande ausgeschaltet – doch an der Auseinandersetzung damit, daß Fernsehen immer und zuerst bloß eines, nämlich Fernsehen ist, findet das Medium selbst nur wenig Gefallen.
Daß TV bloß TV ist, will das TV nicht wissen
Anregen will es, zerstreuen, infotainen, Zeit vertreiben und all das bebildern, womit aus Zuschauern Einschaltquoten werden könnten: Pop & Politik, Klatsch & Tratsch, Flora & Fauna, Sex & Crime, Geld oder Liebe auf über 30 Kanälen rund um die Uhr, Jahr um Jahr.
Die Selbstbezüglichkeit des Mediums indes erschöpfte sich lange Zeit in Programmankündigungen, Wiederholungen und der alljährlichen Übertragung der „Goldene Kamera“-Verleihung. Außerdem gab und gibt es natürlich die weite Welt der Talkshows, die schon immer wußten, daß ein TV-Promi, der andernorts die Nation zum Einschalten veranlaßt, auch als Gast die Quote sichert.
Gut 30 Jahre nach Beginn des televisionären Zeitalters aber ist die erste Generation, die mit dem Fernsehen groß geworden ist, groß geworden. Und das Fernsehen mit ihr: Zumindest für diese Generation ist der Kasten, der sie (und alle) auf Knopfdruck beflimmert, eine Selbstverständlichkeit – ja, eine (kollektive) Grunderfahrung: „Haste gestern auch das Länderspiel/Harald Schmidt/Reich-Ranicki/Eddie Murphy/Willemsens Letzte... geseh'n?“ – Und dennoch wird das Fernsehen zumeist nur diesseits der Mattscheibe zum Ereignis und allenfalls auf der Medientagung X zum Referenzobjekt. Dann, eines Tages, gab es Pay-TV, nicht öffentliches Spielfilmfernsehen also. Und ausgerechnet dort, bei Premiere, nimmt man seit über vier Jahren mit gleich zwei unverschlüsselten Format-Miniaturen – „Zapping“ und „Kalkofes Mattscheibe“ – die bezahlfreie TV- Konkurrenz aufs Korn. (Wobei es sich gewiß lohnen könnte, einmal gesondert darüber nachzudenken, was es bedeutet, daß auf ebenjenem Kanal, auf dem nicht alle alles sehen können, alle sehen können, welchen Schwachsinn alle auf all jenen Kanälen, die alle sehen können, zu sehen bekommen...)
Ist etwa wieder Michael Born an allem schuld?
Ganz allmählich scheint sich nun auch das Normalfernsehen selbst zu entdecken. Möglicherweise ist ein Mann namens Michael Born daran nicht ganz unschuldig, indem er die lange Zeit tabuisierte Frage nach der Glaubwürdigkeit des Mediums mit seinen Fernsehfälschungen und dem anschließenden Prozeß öffentlich machte und den Sendern Reaktion abnötigte, wer weiß?
Jedenfalls gehört seither auch die „Hinter den Kulissen“-Berichterstattung zum Themenkanon der Reportagemagazine, siedeln Krimiautoren ihre Plots statt in Kiez- und Großindustriellenmilieu auch gern mal hinter den TV-Kulissen an; und wenn J.B.K. beispielsweise in seiner letzten „Kerner“ unter dem Motto „Ich moderiere eine tägliche Talkshow“ reden ließ, das „Nachtcafé“ des SDR über „Hans Meiser ohne Scham und Stil“ oder so ähnlich und Sabine Christiansen über „Talk ohne Tabus“ plauschte – dann scheint dies der Erkenntnis geschuldet, daß Fernsehen für den Zuschauer eben nicht Finanzierung, Organisation, Broterwerb und Lampenfieber oder Relevanz bedeutet, sondern primär einfach da ist.
Jüngst mischte sich gar das real existierende TV-Geschäft ins Fiktionale: In Folge 784 der „Verbotenen Liebe“ saßen plötzlich zwei der Vorabendfiguren bei Pfarrmaster Fliege in der Nachmittalks- Deko und suchten beim Deus-ex- machina-Komparsen Hochwürden Jürgen Rat & Zuspruch und Handlungsumschwung – und bescherten dem Zuschauer damit immerhin ein burleskes Kleinod.
Wie überhaupt die Selbstreferentialität selten ohne Komik auskommt. Die zahllosen TV-Comedy-Formate jedenfalls haben allesamt einen Exkurs in die Fernsehwelt im Repertoire. Von der „Wochenshow“ bis in die witzlosen Stand-up-Niederungen eines Michael Mittermeier persifliert, ironisiert und untergräbt die Fernsehcomedy das eigene Medium vor den Augen des Zuschauers.
Diese geradezu kathartische Lust an der On-screen-Dekonstruktion hat sogar eigene Formate hervorgebracht, von denen die selbstkritischsten („Schlingensiefs Talk 2000“, Michael Borns „Stern- TV“-Beiträge, „Nachtschwester Kroymann“, „Privatfernsehen“) allerdings merkwürdigerweise wieder komplett vom Bildschirm verschwunden sind...
„Fiktiv“: die Simulation in der Simulation
Dafür zappt sich „switch“ beispielsweise selbst ganz unbefangen von Sketch zu Sketch (und wieder zurück!) und läßt dabei von Arabella Kiesbauer bis Ulrich Wickert nichts aus, um es der im Original bereits angelegten Lächerlichkeit preiszugeben; „T.V. Kaiser“ reimt sich allfreitäglich nicht nur ungeniert auf Meiser, sondern auch auf Pilawa, Zietlow, Türck und was sich sonst noch alles mit dieser „Talkshow, wo voll gut ist“ (Untertitel) parodieren ließe; und das junge Infofiction-Magazin „Fiktiv“ mischt sich mit allerlei Boulevard-Simulation fast undercover in die Programmroutine.
Erst kürzlich auf den Mainzer Fernsehtagen forderte unser Roman Herzog mehr Transparenz und „Wir über uns“-Aufklärung im TV. Und übersah, daß die „wirklich zeitgemäße“ Erfüllung eines solchen Auftrags, von der er sprach, mit einem Witzchen über Wickert (oder Eligmann) längst Fernsehwirklichkeit geworden ist.
Ab heute bereitet Sat.1 der keimenden Freude an Denunziations- und (Selbst-)Erkenntnis-Spielchen ein frühes Ende: „Echt wahr!“ heißt das Sensationen-Magazin, in dem Milena Preradovic „Unglaubliches“ bzw. „das pralle Leben (...) unverfälscht und plastisch auf den Punkt“ bringen will. Mag „Echt wahr!“ in Wahrheit nur echt überflüssig sein – den Titel sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen. Mit dem schnodderigen „Echt wahr!“ nämlich erklärt der Sendeplatz zwar ebenfalls sich selbst und seinesgleichen. Doch die quotengeile Affirmation, die aus der Namensgebung spricht, macht aus der Selbsterkenntnis bloß wieder eine plumpe Nabelschau.
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