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Abschied von der Kolonialzeit

Fin de siècle in Hongkong: „As tears go by“ und „Days of being wild“, zwei frühe Filme des Regisseurs Wong Kar Wai  ■ Von Anja Seeliger

Vielleicht liegt es an der Herkunft aller Beteiligten aus dem Entertainment, daß in Wong Kar Wais Filmen trotz aller ausgetüftelten Szenenfolgen mitunter Dinge von berückender Einfachheit geschehen. In dem 1988 gedrehten Film „As tears go by“ spielt Andy Lau einen kleinen Schläger und Schutzgelderpresser namens Ah Wah. Er ist ein schöner junger Mann, mit schmalen Wangen und einem langen mageren Körper, der sich in seine lungenkranke Cousine vom Land verliebt. Etwa in der Mitte des Films fährt er sie besuchen. In Jeans und einem engen weißen T-Shirt steht er vor ihrer Tür. Nachdenklich sehen Zuschauer und Freundin ihn an. Dann – dem Zuschauer die Worte aus dem Mund nehmend – platzt die Freundin heraus: Du hast zugenommen!

Das schönste an Wong Kar Wais Filmen ist vielleicht, daß es eigentlich keinen großen Unterschied gibt zwischen einer solchen Szene und einer kompliziert zusammengebastelten Schlägerei. Alles dient dem gleichen Zweck: einen Moment der Wahrheit herbeizurufen.

Durch eine Tablette seiner Cousine, die unbemerkt in die Sprudelflasche gefallen ist, hat Ah Wah einige verschwommene Momente, die in Zeitlupe gedreht wurden. Eine dieser Begebenheiten endet in einer wüsten Schlägerei. Ein kleiner Gangster, der Ah Wahs jüngeren Blutsbruder Fly zusammengeschlagen hat, sitzt mit seinen Freunden in einem kleinen schäbigen Restaurant. Ganz langsam verspeist er ein rohes Ei, scheucht eine Katze vom Tisch und hält breit grinsend seine ordinäre Visage in die Kamera.

Ah Wah bricht in diese Runde ein wie ein Gewitter. Geschirr, Feuer, Besteck, Schnaps – alles, was glänzt, fliegt durch die Luft und zeichnet in der Zeitlupe die schönsten Lichtmalereien auf die Leinwand. Und weil alles so langsam geht, ist die ganze Ökonomie einer Schlägerei exakt eingefangen: Man sieht, wie Ah Wah zuschlägt, wie er eine einfängt, wegtaucht und wieder zuschlägt – die Beteiligten agieren ganz im Hier und Jetzt. Wenn dies der eigentliche Spaß bei einer Schlägerei ist, hat Wong Kar Wai ihn perfekt eingefangen.

Die eigentliche Liebesgeschichte in diesem Film spielt allerdings nicht zwischen Ah Wah und seiner Cousine (obwohl die beiden in einer Telefonzelle das Beste daraus machen), sondern zwischen den beiden Blutsbrüdern. Jacky Cheungs Darstellung des großmäuligen Fly, für die er mit dem Hong Kong Film Award ausgezeichnet wurde, läßt vergleichbare Konkurrenten wie etwa Sal Mineo in „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ blaß aussehen.

In einem Gangsterfilm wie „As tears go by“ dürfen Ah Wah und Fly sich nicht küssen, also können sie nur füreinander sterben. Ah Wah, der zuckend verblutet, stirbt in Zeitlupe. Und die Kamera beugt sich über ihn wie eine Liebende, die ihn keine Sekunde allein lassen will.

Auch der 1990 entstandene Film „Days of being wild“ ist ein Genrefilm: A liebt B, B liebt C, und C liebt A. Die Geschichte spielt in den 60er Jahren. Ein junger Playboy schlägt lustlos die Zeit mit sexuellen Abenteuern tot. Eigentlich ist er auf der Suche nach seiner Mutter, die ihn als Baby zur Adoption weggegeben hat. Die Funktion der Schlägereien, die in „As tears go by“ von den Emotionen erzählen, übernimmt hier der Regen.

Der Regen prasselt fast ununterbrochen auf die leeren Straßen: Ob die Verkäuferin Li Chen vor Yuddys Haus auf ihren treulosen Geliebten wartet oder der Polizist Tide vor einer öffentlichen Telefonzelle auf einen Anruf von Li Chen wartet. Wenn alle erschöpft sind von den großen Ausbrüchen und den Tränen und die leeren Straßen entlang wandern, regnet es nicht mehr, aber überall steigt Dampf hoch. Die Mäntel und Gesichter glänzen, selbst die Pomade im Haar der Jungs schimmert wie in Tränen getaucht – oder in Liebesschweiß.

Der Filmkritiker Shu Kei nannte „Days of being wild“ den ultimativen Fin-de-siècle-Film über Hongkong. Der Abschied von der kolonialen Vergangenheit ist bitter. Als Yuddy seine Mutter auf den Philippinen findet, will sie ihn nicht sehen. Er geht fort, ohne sich einmal umzudrehen: „Wenn sie mich nicht sehen will, dann soll sie auch mein Gesicht nie sehen.“

„As tears go by“. Regie: Wong Kar Wai. Mit: Andy Lau, Maggie Cheung, Jacky Cheung. Hongkong 1988, 102 Minuten

„Days of being wild“. Regie: Wong Kar Wai. Mit: Leslie Cheung, Carina Lau, Maggie Cheung. Hongkong 1990, 98 Minuten

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