: Auf der Flucht vor der Hölle im Kosovo
Täglich werden Tausende Kosovo-Albaner aus ihrer Heimat vertrieben. Rund 500 sind im benachbarten Montenegro eingetroffen. Die dortige Regierung ist hoffnungslos überfordert. Denn humanitäre Hilfe bleibt bislang aus ■ Aus Plav Erich Rathfelder
Die Gestalten sind ausgemergelt. Zwei Tage und zwei Nächte sind sie unterwegs gewesen, von ihrem Dorf Isnić, südlich der Stadt Pec im Westen des Kosovo, bis hierher in die Grenzregion auf montenegrinischer Seite. Zuerst zögert der 40jährige Naser Mulej, dann erzählt er doch von der Flucht der 25köpfigen Familie. Zunächst wurden der Strom und das Telefon abgestellt, dann rückten die serbischen Einheiten näher. „Sie haben mit Artillerie und aus Hubschraubern geschossen.“
Dann jedoch kamen die Bodentruppen. Ein Haus nach dem anderen ging in Flammen auf. „Als sie sich näherten, sind die Leute geflohen. Dann gingen sie in die Häuser, auch serbische Zivilisten waren dabei und holten sich alles heraus, was nicht niet- und nagelfest war.“ Danach hätten sie die Häuser angesteckt. „Von den 700 Häusern unseres Dorfes waren zum Zeitpunkt unserer Flucht schon über die Hälfte verbrannt.“
Auch die Moschee wurde dem Erdboden gleichgemacht. Bei der Frage nach der Zahl der Opfer, schüttelt Naser Mulej den Kopf. Sechs Tote habe er gesehen, aber es müssen weit mehr sein. „Alle, die in ihren Häusern geblieben sind, sind verschwunden. Auch die Tiere haben sie getötet, in dem Dorf hatten wir über 10.000, Kühe, Pferde und Haustiere.“
Die Familie gelangte mit einem Troß von anderen Flüchtlingen in einem Nachtmarsch in die Berge an der Grenze zu Montenegro. Es gab nichts zu Essen. Endlich konnten sie die Grenze an einer nichtüberwachten Stelle überqueren. Jetzt sitzt Naser Mulejauf in dem Gebäude der Albanisch-Demokratischen Union Montenegros in dem grenznahen und vor allem von Albanern bewohnten Ort Plav. Und weiß nicht, wie er seine Familie über die Runden bringen soll.
Das wissen auch die anderen 520 Menschen nicht, die es bis hierher geschafft haben. Denn humanitäre Hilfe gibt es nicht. Vor dem Hotel des Ortes, in dem zuerst angekommenen Flüchtlinge untergekommen sind, ist ein Wagen des montenegrinischen Roten Kreuzes vorgefahren. Es wird Brot gebracht, ein dreiviertel Kilo pro Person, sonst nichts. „Wir wissen nicht mehr, woher nehmen“, sagt der Fahrer. Und auch der Vorsitzende der Albanisch-Demokratischen Union des Ortes, Naim Marhinaj, zuckt nur die Schultern. „Die jugoslawische Regierung verhindert offenbar, daß internationale humanitäre Organisationen hier und im Kosovo tätig werden können. Wir fordern die humanitären Organisationen der Welt auf, alles möglich zu machen, um hierherzukommen. Bei den bisher geflüchteten 520 Menschen in dieser Gemeinde wird es nicht bleiben. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.“
Auch andere Neuankömmlinge berichten von einem langen Flüchtlingsstrom, von denen die meisten jedoch nach Albanien unterwegs seien. Nach der Attacke auf die östlich der Straße Peja– Djakova gelegenen Dörfer seien die Menschen auch aus Babaloq und Hereq geflohen. Dann wurde die Stadt Decani zerstört.
Die Flüchtlinge berichten, daß alle Dörfer westlich dieser Straße ethnisch gesäubert würden. Überall gehen die Serben in ähnlicher Weise vor. Zuerst wird geschossen, die Leute fliehen oder werden festgenommen, geschlagen, ausgeraubt, viele ermordet, dann werden die Häuser angesteckt. Albanische Heckenschützen versuchten dagegen, die serbischen Militärkolonnen an der Straße nach Pec zu beschießen. „Wir haben aber nur wenige Waffen und können unsere Dörfer nicht verteidigen“, sagt ein junger Mann.
In dem Ort Gusinje nahe Plav sind die ersten Flüchtlinge aus Pec angekommen. In der Stadt sei die Hölle los, berichten sie schockiert. Serbische Scharfschützen schössen auf alles, was sich bewegt, die Häuser würden systematisch durchsucht. Er sei mit der Familie noch mit einem Bus aus der Stadt gekommen, erzählt ein Mann. An der Grenze zu Montenegro seien sie zuerst zurückgewiesen worden. „Die Grenzsoldaten haben einen Mann bewußtlos geschlagen und uns beleidigt. Wir sollten zurückkehren, die Serben würden sich schon um uns kümmern.“ Schließlich durften sie durch. Hier seien sie zunächst sicher. Doch dies scheint fragwürdig. Ein montenegrinischer Spezialpolizist verteidigt die serbische Militäraktion „als Kampf gegen den Terrorismus“, eine systematische „ethnische Säuberung“ lehnt er ab. Nicht so Mirko F., ein Mitglied der Radikalen Partei des Vojislav Seselj in der Nachbarstadt Berane. „Die Serben müssen um ihr Land kämpfen. Wir müssen diese Landstriche von den Albanern säubern, sonst haben wir vor ihnen niemals Ruhe.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen